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Kernkraftwerke im Ukraine-Krieg: Informationen zur nuklearen Sicherheit

Risiken für Kernkraftwerke im Krieg

Im Ukraine-Krieg, der am 24. Februar 2022 mit dem russischen Überfall auf das Land begonnen hat, standen auch schon Kernkraftwerke unter Beschuss. Die Experten des Öko-Instituts geben eine Einschätzung zu den Risiken mit Blick auf die nukleartechnischen Anlagen. Fragen zur Versorgungssicherheit mit Energie, zu Abhängigkeiten von Russland und zu den steigenden Preisen werden im Blogartikel "Kernkraftwerke statt Erdgas?" beantwortet.

Die Ukraine betreibt 15 Kernreaktoren an vier Standorten. Die Reaktoren stellen mehr als 50 Prozent der Elektrizitätsversorgung des Landes sicher. Mit seinen Angriffen auf nukleare Anlagen hat Russland gegen das Genfer Protokoll und Resolutionen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und damit gegen internationales Recht verstoßen.

Die radiologische Sicherheit im Kernkraftwerk Tschernobyl

Auf dem Gelände des Kernkraftwerks Tschernobyl befinden sich neben dem havarierten Reaktor drei weitere stillgelegte Kraftwerke sowie Zwischenlager für abgebrannte Brennelemente aus der Ukraine und für die Abfälle aus dem havarierten Reaktor.

Das Gelände wurde schon in den ersten Tagen vom russischen Militär erobert. Das Personal des Standortes arbeitete mehrere Wochen ohne Pause und unter extrem schwierigen Bedingungen. Die Besorgnis über den Stand der Sicherheit der nuklearen Abfälle in Tschernobyl veranlasste den Generaldirektor der IAEO am 4. März vorzuschlagen, persönlich nach Tschernobyl zu reisen.

Am 25. Februar stieg die sogenannte Ortsdosisleistung an verschiedenen Messpunkten in der Sperrzone um das Kernkraftwerk Tschernobyl. Die russischen Truppenbewegungen haben offenbar radioaktiven Staub aufgewirbelt, als sie das Kernkraftwerk eingenommen haben.

Am 9. März fiel nach Angaben des ukrainischen Netzbetreibers Ukrenergo der Strom in der Anlage aus, da durch den Beschuss der russische Armee Stromleitungen beschädigt worden sind. Im havarierten Reaktorblock und den drei stillgelegten Kraftwerken am Standort Tschernobyl lagern mehr als 22.000 abgebrannte Brennelemente in Brennelementlagerbecken. Da die abgebrannten Elemente aber nur noch wenig Wärme abgeben, bestand keine unmittelbare Gefahr. Der IAEO zufolge soll es auf dem Gelände zu keinen größeren Kämpfen und Beschädigungen gekommen sein.

Das Gefecht im AKW Saporischschja

Das AKW Saporischschja ist mit seinen sechs Reaktorblöcken das größte Kernkraftwerk Europas. In der Nacht vom 3. auf 4. März näherten sich russische Panzerfahrzeuge der Anlage und es kam zu einem zweistündigen Feuergefecht auf dem Anlagengelände.

Die zuständige Leitung des Kernkraftwerks teilte zunächst laut Medienberichten mit, dass ein Ausbildungsgebäude auf dem Betriebsgelände von dem Brand betroffen sei. In den folgenden Tagen veröffentlichten die ukrainischen Behörden und die IAEO Bilder und ein Video des Angriffs. Diesen zufolge waren die durch den Kampf verursachten Schäden wesentlich umfangreicher als zunächst angenommen. Unter anderem wurde offenbar das Ausbildungsgebäude zerstört. Das Reaktorgebäude des Blocks eins, ein Transformator am Block 6 und zwei der vier externen Stromleitungen wurden beschädigt. Zwei Granaten sind im Trockenlager für abgebrannte Brennelemente gefunden worden. Auf den Videos waren Appelle des Betriebspersonals zu hören, die zu einer sofortigen Beendigung der Kampfhandlungen aufforderten.

Zunächst wurde der Feuerwehr der Zugang zu der Anlage verwehrt. Laut Behördenangaben ist das Feuer aber in den frühen Morgenstunden vollständig gelöscht worden. Dabei wurden zwei Personen des Sicherheitspersonals der Anlagen verletzt, aber keine Techniker*innen, die den Betrieb der Anlage sicherstellen. Eine erhöhte Radioaktivität sei in der Umgebung der Anlage nicht gemessen worden.

Die Schäden am Reaktorgebäude sind nicht schwerwiegend. Das Reaktorgebäude des Kernkraftwerks in Saporischschja ist robust ausgelegt, so dass es den Absturz eines Kleinflugzeugs überstehen könnte. Doch das Sicherheitsniveau der Anlage war und ist erheblich beeinträchtigt. Der IAEO-Direktor Rafael Grossi zeigte sich ernsthaft besorgt über die Angriffe. Zur Sicherheit der kerntechnischen Anlagen in der Ukraine sagte er, dass diese zwar im Normalbetrieb arbeiteten, aber derzeit nichts an den äußeren Umständen normal sei.

Informationen zur Sicherheit der Kernkraftwerke in der Ukraine

Wie sicher sind die Kernkraftwerke in der Ukraine?

Zunächst: Für alle Kernkraftwerke weltweit gelten internationale Sicherheitsrichtlinien. Diese werden von der IAEO herausgegeben, müssen dann aber in den Nationalstaaten umgesetzt werden. Diese Anforderungen werden kontinuierlich weiterentwickelt. Die nationalen Sicherheitsbestimmungen unterscheiden sich daher in den Sicherheitsanforderungen, etwa die Auslegung der Anlagen gegen Einwirkungen von außen wie Flugzeugabstürze, der erforderlichen Redundanz (mehrfache Ausstattung) oder der Unabhängigkeit der Sicherheitssysteme. Auch unterscheiden sich die Kraftwerke älterer und neuerer Bauart oder nach Herkunft: russische Bauart in der Ukraine oder europäische Bauart in Frankreich oder in Deutschland. Pauschal lässt sich deshalb die Sicherheit von Kernkraftwerken nur schwer vergleichen.

Sicher ist aber, dass ein militärischer Angriff oder Kampfhandlungen in der Nähe von Kernkraftwerken die Risiken von schweren Unfällen enorm steigern. Sie sind daher völlig unverantwortlich; eine weitere Eskalation von Kampfhandlungen muss unbedingt verhindert werden.

Sind Angriffe auf Kernkraftwerke verboten?

Im humanitären Kriegsvölkerrecht sind Angriff auf nukleare Anlagen zum Schutz von Opfern bewaffneter Konflikte eindeutig verboten (Artikel 56 der Zusatzprotokolle vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949).

Ebenfalls hat die Generalversammlung der IAEO im Jahr 2009 einstimmig beschlossen, die Resolutionen aus den Jahren 1985 und 1990 zu bekräftigen. Darin heißt es, dass jeder bewaffnete Angriff auf und jede Bedrohung von Nuklearanlagen, die friedlichen Zwecken dienen, einen Verstoß gegen die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, des Völkerrechts und der Satzung der IAEO darstellt. Russland ist Mitglied der IAEO.

Welche Gefahren gibt es, wenn Kernkraftwerke militärisch angegriffen werden?

Die Stromversorgung ist ein taktisches und strategisches Ziel in militärischen Auseinandersetzungen, weil sie der Energieversorgung dient und weil ihre Beschädigung oder Zerstörung zu einer massiven Destabilisierung der Versorgung und Logistik eines Landes führen kann.

Bei direkten Angriffen droht die Zerstörung von wichtigen sicherheitstechnischen Systemen des Reaktors oder auch der Lager für abgebrannte Brennelemente. Es besteht die Gefahr, dass radioaktive Materialien aus dem Reaktorkern in die Umwelt freigesetzt werden und es zu großflächiger Kontamination kommt. Direkte Angriffe setzen das Motiv voraus, das radioaktive Inventar eines Reaktors als Waffe einzusetzen. Ein Szenario, an dem im derzeitigen Konflikt auch Russland kein Interesse haben kann.

In militärischen Auseinandersetzungen können kerntechnische Anlagen aber nicht nur direkt angegriffen, sondern auch unbeabsichtigt beeinträchtigt werden. In der Folge kann es zu einer ungünstigen Verkettung von Ereignissen kommen, die zu einem schweren Reaktorunfall führen. So können Kampfhandlungen in der Umgebung eines Kraftwerks zum unbeabsichtigten Beschuss führen und wichtige Sicherheitseinrichtungen zerstören.

Auch können kriegerische Handlungen die externe Stromversorgung eines Kraftwerks unterbrechen. Die Stromversorgung wird benötigt, um die notwenige Kühlung der Kernbrennstäbe zu gewährleisten, falls das Kraftwerk abgeschaltet wird. Ist die externe Stromversorgung unterbrochen, muss die Stromversorgung zur Kühlung der Nachwärme des heißen Reaktorkerns zunächst durch anlageneigene Notstromanlagen erfolgen. Fällt die Kühlung aus, kann es zu extrem hohen Temperaturen im Reaktorkern kommen und der Brennstoff schmelzen, es kommt also zur sogenannten Kernschmelze.

Für den sicheren Betrieb eines Reaktors ist auch spezielles Betriebspersonal erforderlich. Umstände wie fehlender Personaltausch über viele Tage, Schlaflosigkeit, Stress durch die Anwesenheit bewaffneter Soldaten und die Sorge um das private Umfeld können die Leistungsfähigkeit des Personals beeinträchtigen, wodurch Fehler wahrscheinlicher werden.

Unabhängig von den verschiedenen Ursachen möglicher Unfälle setzt ihre Beherrschung und Minderung der Folgen einen funktionierenden Katastrophenschutz und schnell einsetzbare technische Maßnahmen voraus. Diese Reaktionsfähigkeit des betroffenen Staates kann in Konflikt- oder Kriegssituationen jedoch geschwächt sein. Das kann dazu führen, dass einem Nuklearunfall nicht adäquat begegnet werden kann und seine Folgen größer werden.

Wie kann man trotz kriegerischer Handlungen die Sicherheit an den Anlagen gewährleisten?

Das wichtigste ist, dass sich die Kriegsparteien an ihre internationale Verpflichtung halten, keine kriegerischen Handlungen im Umfeld der kerntechnischen Anlagen durchzuführen. Zusätzlich muss alles unternommen werden, um die externe Energieversorgung stabil zu halten. Außerdem muss das Personal jederzeit die Anlagen frei betreten können und die Versorgung mit Hilfsmitteln etwa Treibstoff für den Betrieb von Notstromanlagen muss durchgängig sichergestellt sein.

Welche Folgen sind für Deutschland zu erwarten, wenn ein oder mehrere Meiler getroffen werden?

Ob und wie stark Deutschland von einem möglichen Reaktorunglück in der Ukraine betroffen wäre, hängt im Wesentlichen von den Wetterbedingungen und der Windrichtung ab. Im schlimmsten Fall kann es zu ähnlichen Auswirkungen wie nach der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986 kommen. In Tschernobyl war es in Folge einer Explosion, bei der die Brennelemente und die Reaktorhülle zerstört wurden, zur Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt gekommen. Die radioaktiven Stoffe werden mit dem Wind weit verteilt und radioaktive Stoffe werden durch Niederschläge aus der „radioaktiven Wolke“ ausgewaschen und abgelagert.

Weitere Informationen

Studie „Nukleare Sicherheit in Krisengebieten“ des Öko-Instituts mit einer ausführlichen Analyse zu potenziellen Risiken in der Ukraine (2017)

Aktuelle Medienbeiträge

Matthias Englert bei einem Fachgespräch der Deutschen Physikalischen Gesellschaft: Gefahren im Ukraine-Krieg: Einschätzungen der naturwissenschaftlichen Friedensforschung, 26.04.2022

Matthias Englert bei der Frühjahrstagung der Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG): Nukleare Gefahren in der Ukraine Krise, 16.3.2022

Christoph Pistner im SWR: Atomenergiebehörde ohne Verbindung zu Europas größtem AKW in der Ukraine: "Das ist eine unbefriedigende Situation!", 10.3.2022

Christoph Pistner bei Spektrum.de: Wie gefährlich ist die Lage an den ukrainischen Atomkraftwerken?, 4.3.2022

Christoph Pistner auf Tagesschau.de: Was über den Brand bekannt ist, 4.3.2022

Christoph Pistner bei nano im 3sat: Saporischschja - ein noch nie da gewesenes Szenario, 4.3.2022

Simone Mohr im SWR: Angriff auf ukrainisches Atomkraftwerk – Das Spiel mit dem nuklearen Feuer, 4.3,2022

Christoph Pistner in der drehscheibe im ZDF: Sorge um ukrainisches AKW nach Brand, 4.3.2022

Matthias Englert auf rtl.de: Feuer in Kernkraftwerk Saporischschja: Was Sie über Europas größtes AKW wissen müssen, 4.3.2022

Matthias Englert im Darmstädter Echo: Sorge um Atomkraftwerke im Ukraine-Krieg, 3.3.2022