Das Elektro-Bürgerauto im Nordschwarzwald
Die Elektromobilität hat sich auf den Weg gemacht, die deutschen Straßen zu erobern. Im Jahr 2021 lag der Anteil elektrischer Pkw an den Neuzulassungen laut Kraftfahrtbundesamt bei 13,6 Prozent – im Vorjahreszeitraum lag dieser Wert noch bei 6,7 Prozent. Laut dem Willen der Bundesregierung soll es bis 2030 mindestens 15 Millionen reine Elektroautos geben. In unserer Elektromobilitäts-Reihe blicken wir auf Oberreichenbach, eine Gemeinde mit 3.000 Einwohner*innen im Nordschwarzwald. Dort ist seit 2012 das so genannte Elektro-Bürgerauto im Einsatz. Seit 2018 gibt es zudem ein Carsharing-Angebot. Wie das ankommt, haben wir mit dem Bürgermeister Karlheinz Kistner besprochen.
Zwar gibt es einen Dorfmarkt. Doch weitere Einzelhandelsgeschäfte? Oder eine Arztpraxis? Die findet man erst im nächsten oder übernächsten Dorf. Mit dem Fahrrad ist das zu weit und zu schwer. Der Bus fährt nur einmal die Stunde. Viele denken: Um ein eigenes Auto kommt man im ländlichen Raum nicht herum. Dass es auch anders geht, zeigt die Kommune Oberreichenbach. Sie hat die Mobilität ihrer etwa 3.000 Einwohner*innen mit einem Elektro-Bürgerauto und einem Carsharing-Angebot deutlich verbessert.
Für zwei Euro in den nächsten Ortsteil
Auch in Oberreichenbach stand es 2009 mit der Mobilität nicht zum Besten. Es gab keinen übersichtlichen Busfahrplan, die Strecken zur Bushaltestelle waren für viele ältere Einwohner*innen schlicht zu weit und viele Busse ohne Fahrgäste unterwegs. Zusätzlich gibt es in der Gemeinde keine Apotheke, keine Arztpraxis, keinen Klamottenladen. „Das Elektro-Bürgerauto sollte eine bessere und einfachere Mobilität für alle bringen. Die Menschen zu ihren Arztterminen oder ins Krankenhaus bringen, ohne zu hohe Kosten oder ein zu kompliziertes Verfahren“, sagt Karlheinz Kistner, Bürgermeister von Oberreichenbach. Bevor das möglich wurde, wurde es allerdings für Kistner selbst kompliziert.
Denn am Anfang stand vor allem: viel Organisation und Bürokratie. „Wir mussten uns mit der Fahrerlaubnis-Verordnung ebenso auseinander setzen wie mit dem Personenbeförderungsgesetz. Da wir aber keine Einnahmen mit dem Bürgerauto generieren, gilt es als genehmigungsfreier Verkehr.“ Dieser ist für alle Nutzer*innen sehr günstig: Eine Fahrt innerhalb eines Ortsteils kostet einen Euro, für zwei Euro geht es in einen anderen Ortsteil und für drei Euro in eine Nachbargemeinde.
Von acht bis acht
Seit 2012 ist das Elektro-Bürgerauto bereits in Oberreichenbach unterwegs, über 10.000 Euro gibt die Gemeinde jedes Jahr dafür aus. „Wir haben uns zunächst ein Probejahr gegeben, um zu sehen, ob es überhaupt funktioniert.“ Spätestens heute, fast zehn Jahre später, ist klar, dass es funktioniert. Rund 2.000 Personen nutzen das Bürgerauto jedes Jahr, umgesetzt wird es in Kooperation mit Energie Calw (ENCW) und dem Renault Autohaus Lohre aus dem nahe gelegenen Ostelsheim. Vor allem Senior*innen nutzen das Angebot. Die Fahrten buchen sie unkompliziert per Telefon bei den ehrenamtlichen Fahrer*innen. Diese erhalten eine Aufwandsentschädigung von 20 Euro am Tag – egal, wie viele Fahrten sie zwischen 8 und 20 Uhr machen.
„Es war am Anfang durchaus eine Herausforderung, die Ehrenamtlichen zu finden“, erklärt Kistner, „wir haben erst über das Amtsblatt gesucht und dann nach und nach Menschen angesprochen, bei denen wir dachten, dass sie uns bei diesem Projekt unterstützen könnten.“ Heute sitzen 20 Fahrer*innen in und um Oberreichenbach regelmäßig hinterm Steuer. Die Corona-Pandemie hat das Projekt Bürgerauto allerdings erschwert. „Es darf nur noch ein Gast im Auto sitzen, so dass die Verknüpfung von Fahrten leider nicht mehr funktioniert“, sagt der Bürgermeister, „wenn die Personen aus einem gemeinsamen Haushalt stammen, dürfen es auch zwei sein.“
Carsharing im ländlichen Raum
Nach dem Erfolg mit dem Elektro-Bürgerauto nahm sich die kleine Gemeinde im Nordschwarzwald das nächste elektrische Projekt vor: Carsharing. Dass auch dieses im ländlichen Raum funktioniert, zeigen Kistner sowie seine Mitstreiter*innen seit 2018 in Kooperation mit dem ENCW-Tochterunternehmen Deer Carsharing. „Das Carsharing ist gerade für jene Menschen geeignet, die flexibler sein oder längere Strecken als bis in die Nachbargemeinde fahren wollen. Und für jene, die außerhalb der Einsatzzeiten des Bürgerautos mobil sein wollen.“
In den vier Ortsteilen gibt es nun jeweils eine Mobilitätsstation. Hier finden sich ein Parkplatz und eine Bushaltestelle ebenso wie ein Fahrradständer und eine Carsharing-Station. „Mit dem Auto kann man zum Beispiel auch an den Flughafen fahren, denn es kann an jeder beliebigen Station von Deer zurückgegeben werden“, sagt Kistner.
Einfach und offen für alle
Wenn man dem Bürgermeister zuhört, klingt alles einfach und unkompliziert. Doch das ist es natürlich nicht immer. „Am Anfang hatten wir zum Beispiel nur 11 der notwendigen 20 Fahrer*innen. Wir sind in vielerlei Hinsicht ein Risiko eingegangen und haben beschlossen, es einfach zu machen.“ Dann ergänzt er: „Das hat sich ausgezahlt. Und schön ist doch auch, dass jetzt niemand mehr sagen kann, dass so etwas nicht funktioniert.“ Für den Wagemut und das Engagement wurde das Projekt unter anderem 2012 beim Bundeswettbewerb „Kommunaler Klimaschutz“ ausgezeichnet.
Zum Erfolg des Elektro-Bürgerautos hat aus Sicht von Karlheinz Kistner auch beigetragen, „dass das Projekt einfach ist.“ Und besonders wichtig sind natürlich „die Menschen, die es mit Leben füllen.“ Für den Bürgermeister stehen die Menschen grundsätzlich an erster Stelle, auch jene, die die Mobilitätsangebote in Oberreichenbach nutzen. „Sie sind wichtig, nicht die Kosten oder die Fahrzeuge.“ Übrigens: Alle, die einmal in den Nordschwarzwald fahren und Oberreichenbach besuchen möchten, können das Elektro-Bürgerauto nutzen. Sie müssen nur rechtzeitig anrufen.
Oberreichenbach liegt im nördlichen Schwarzwald und gehört zum Landkreis Calw. Ende 2021 hatte die Gemeinde 2.948 Einwohnerinnen und Einwohner. Sie hat für sich das Leitbild „Wir in Oberreichenbach gestalten nachhaltig Lebensqualität durch Nähe“ entwickelt. Karlheinz Kistner wurde 2008 zum Bürgermeister von Oberreichenbach gewählt sowie 2016 bestätigt, zuvor war er als Bauamtsleiter in einer Nachbargemeinde tätig.
Weitere Informationen
Themenseite „Kommunaler Klimaschutz – Unser Elektro-Bürgerauto“ auf der Website von Oberreichenbach