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„Die meisten Energie-Potenziale liegen im ländlichen Raum“

Dr. Melanie Mbah und Ryan Kelly haben jüngst im Rahmen des Ensure-Projekts, das sich dem Stromnetz der Zukunft widmet, eine Publikation zu den regionalen Aspekten der Energiewende veröffentlicht. Darin wird die hohe Relevanz für alle Menschen in ganz Deutschland deutlich, weil sie die Energiewende als Aufgabe sieht, die buchstäblich „nebenan“ stattfindet. Details erläutern die beiden Wissenschaftler*innen im Interview.
  • Dr. Melanie Mbah
    Forschungskoordinatorin für Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung / Senior Researcher Nukleartechnik & Anlagensicherheit
  • Ryan Kelly
    Wissenschaftlicher Mitarbeiter Nukleartechnik & Anlagensicherheit

regionales Handeln für die Energiewende wichtig

Klimawandel ist nicht nur ein gesamtdeutsches, sondern ein globales Problem. Damit muss eine Energiewende auch ein globales Anliegen sein. Warum ist dennoch so wichtig, kleinteiliger draufzuschauen?

Ryan Kelly: Die lokalen Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels fallen in anderen Regionen der Erde deutlich drastischer aus als in Deutschland. Extremwetterereignisse, Dürren und Überflutungen sind nur einige der Erscheinungen. Was wir in Deutschland tun, hat Auswirkungen auf unsere Nachbarn, aber auch weiter entfernte Regionen der Erde – das dürfen wir bei allem nicht vergessen!

Bei der Begrenzung der Klimakrise ist die Energiewende, also der Umstieg von einem fossil-nuklearen auf ein regeneratives Energiesystem, nur ein „Puzzle-Stück“. Aber ein sehr wichtiges. Da der Stromverbrauch durch beispielsweise E-Mobilität, Wärmepumpen und elektrische Industrieprozesse wie der Herstellung von Grünem Wasserstoff künftig weiter ansteigen wird.

Unsere Energiewende ist zwar aufgrund des transeuropäischen Stromnetzes und -marktes auch eine globale Angelegenheit. Handeln können wir aber am besten vor Ort, die Energiewende lässt sich nicht global umsetzen. Eine Windkraft- oder eine Solaranlage können wir beispielsweise nicht in das europäische Parlament stellen, sondern nur in unsere sprichwörtlichen Vorgärten.

Melanie Mbah: Dazu kann und muss eine jede Region ihren Beitrag leisten – aber nicht nach „Schema F“, sondern angepasst an die lokalen Bedarfe und Rahmenbedingungen. Es ist wichtig, die Menschen vor Ort mitzunehmen, damit die Energiewende gelingt. Und „vor Ort“ bedeutet: ganz unterschiedliche Orte mit unterschiedlichen Anforderungen. Denn das Energiesystem wird mit der Nutzung regenerativer Energien dezentraler. Da heißt, es wird viele kleinteilige Anlagen in allen Regionen Deutschlands geben. Was wir dabei berücksichtigen müssen, ist die Tatsache, dass Voraussetzungen, Erfahrungen und Bedarfe jeweils verschieden sind.

Wie „kleinteilig“ sollte es denn werden – und warum?

Ryan Kelly: Das ist von Maßnahme zu Maßnahme unterschiedlich. Das variiert je nach Ausmaß und Typus einer Erneuerbaren-Energien-Anlage (EE-Anlage). Es gibt ja eine riesige Spannweite vom großen Windpark bis zur kleinen Solaranlage auf dem eigenen Dach. Das föderale System in Deutschland teilt insbesondere der „untersten“ administrativen Ebene, den Kommunen, eine wichtige Rolle zu. Die nächsthöhere Ebene der Regionalplanung und Landkreise ist ebenfalls auf das Mitmachen und die Unterstützung der Kommunen angewiesen. Für die tatsächliche Umsetzung von klimafreundlichen EE-Projekten ist also wichtig, die Gemeinden und Regionen frühzeitig und umfangreich einzubinden. Eine Energiewende im Bayrisch-Allgäuischen Fuchstal sieht anders aus als in Nordrhein-Westfälischen Ruhrgebiet oder im Schleswig-Holsteinischen Kreis Steinburg. Und das ist auch okay so.

Melanie Mbah: Wichtig ist, den Konsens für die Energiewende zu nutzen und den Prozess der Umsetzung so zu gestalten, dass dieser auf Zustimmung stößt. Es braucht also frühzeitige Beteiligungsmöglichkeiten aller relevanten Akteure – insbesondere der Gemeinden –, aber auch aller Interessierten vor Ort. Nur so lässt sich die Ausgestaltung vor Ort möglichst verträglich und passgenau umsetzen. Dazu gehört zum Beispiel, Flächen auszuwählen, die die Menschen, die im Ort X leben auch als besonders geeignet betrachten, und Modelle zu entwickeln, wie EE-Anlagen zum Gemeinwohl beitragen können. Nur dann können die Menschen in Gemeinden und Regionen auch einen Mehrwert für sich erkennen. Es ist also immer eine Frage des „Wie“?

Sie erwähnten es bereits: Das Gelingen der Energiewende steht und fällt damit, wie gut die breite Masse der Menschen sie akzeptiert und mitträgt. Wie kann eine regionalere Perspektive Ihrer Forschung zufolge dazu beitragen?

Ryan Kelly: Es geht uns in unserer praxisorientierten Forschung auch darum, die abstrakte Energiewende mit ihren lokalen Chancen und Herausforderungen „erfahrbar“ zu machen. Wie können die Menschen vor Ort von der Energiewende profitieren? Wie lassen ihre individuellen Bedarfe sich decken? Wenn kommunale EE-Anlagen oder Bürgerenergieprojekte Erträge erwirtschaften, lassen diese sich beispielsweise für Kindergärten, die freiwillige Feuerwehr oder andere Daseinsvorsorge-Angebote einsetzen. Hier möchten wir auch einen Austausch zwischen unterschiedlichen Regionen Deutschlands anregen. Denn diese können schon viel voneinander lernen.

Melanie Mbah: Zudem möchten wir auch erforschen, wie die Prozesse zur Planung und Umsetzung der Energiewende angepasst an die lokalen Anforderungen ausgestaltet sein müssen, sodass am Ende auch gesellschaftlich tragfähige Projekte realisiert werden können. Wie möchten die vor Ort lebenden Menschen in Planungsverfahren für neue Stromnetze oder EE-Anlagen einbezogen werden, wie kann lokale Mitgestaltung konkret aussehen, welche Formate braucht es dafür? Das alles sind Fragen, die uns in unserer Forschung beschäftigen.

Das klingt ja spannend und sehr nahbar. Sie sprechen in der Publikation von einer „raumsensiblen Energiewende-Governance“. Wenn Sie den Begriff einer Grundschulklasse erklären müssten, wie würde diese Erklärung aussehen?

Ryan Kelly: Man könnte sich das so vorstellen: Wie fändest du es, wenn jemand dein Zimmer zuhause umgestalten und aufräumen würde, ohne dich vorher zu fragen, wie du es denn möchtest, weil er denkt, er wüsste schon, wie „schöne Zimmer“ auszusehen haben? Aber die Farbe gefällt dir nicht, du findest deine Sachen nicht mehr so richtig und eigentlich möchtest du lieber eine gemütliche Sitzecke statt einer praktischen Garderobe in deinem Zimmer. Wenn das so laufen würde, wärst du am Ende sauer. Und dann wäre dir der Flur vielleicht lieber als dein Zimmer, oder du bist sogar so sauer, dass du eigenhändig die Garderobe aus der Wand herausreißen möchtest.

„Raumsensibel“ wäre es hingegen, wenn wir gemeinsam überlegen, wie wir denn dein ganz individuelles Zimmer gemeinsam so aufräumen und umgestalten können, dass du alles findest, dich wohlfühlst, alles gleichzeitig aber so gestaltet ist, dass es dir nutzt. Dann nimmst du das neue Zimmerkonzept auch gerne an, weil du davon etwas hast und es sich immer noch nach „deinem“ Zimmer anfühlt und nicht nach etwas Fremden. So, und genau diese Überlegungen machen wir uns im größeren Stil für die Energieversorgung der Region, in der du lebst, damit wir gemeinsam das Ziel einer besseren sauberen Zukunft erreichen können.

Wow, danke! Ich glaube, das macht wirklich für alle nachvollziehbar, warum der Begriff „raumsensibel“ für Ihre Forschung und die Energiewende so relevant ist. Sie haben für das, was Sie so zugänglich beschrieben haben, auch Gelingensbedingungen entwickelt. Was sind die drei wichtigsten Punkte, die hierzu jede und jeder kennen sollte?

Ryan Kelly: Die Energiewende kann gesellschaftlich nur gelingen, wenn die Betroffenen vor Ort eine Wertschätzung für ihre Mitarbeit an der globalen Klimakrise erfahren, man sie ernst nimmt und sie mitgestalten lässt. Zudem gilt es, lokale Lösungen zu finden, die vor Ort gut passen, auch wenn es sich um globale Probleme handelt. Dabei ist auch wichtig, einen fairen Ausgleich vor Ort sicherzustellen. Das heißt, dass alle von den gemeinsamen Projekten profitieren und das Gemeinwohl gestärkt wird. Es dürfen nicht nur einzelne Grundstücksbesitzende, Unternehmen oder Investierende Vorteile haben. Das schürt Unmut in der Nachbarschaft.

Aber wenn die Energiewende vielerorts mit Blick auf die Gegebenheiten vor Ort „im Kleinen“ gedacht wird, besteht dann nicht die Gefahr, dass Puzzlesteine nicht mehr nahtlos zusammenpassen und das „große Ganze“ an Fahrt und Form verliert?

Ryan Kelly: Es braucht auch Formate und Räume, in denen das Große und Ganze der Klimapolitik im Fokus steht. Zum Beispiel die Klimapolitischen Strategien von Bund und EU oder die internationalen Klimaverhandlungen („COP“). Vor Ort lässt sich aber nur das bewirken, worüber Handlungsmacht und eine Selbstwirksamkeit bestehen – ein konkretes Projekt, eine kreative Idee oder ein toller Wettbewerb; also sogenannte „Leuchttürme“. Diese braucht es für die Orientierung auf stürmischer See.

Das waren viele Informationen - und wer sich die Zeit nimmt, die Publikation zu lesen, bekommt noch mehr. Ich danke Ihnen. Zum Abschluss: Wenn Sie gemeinsam drei Wünsche von einer guten Fee frei hätten, um das praktisch umzusetzen, worüber Sie geschrieben haben, von wem würden Sie sich dann was wünschen?

Ryan Kelly: Wir würden uns mehr Wertschätzung und Sensibilität für und Zusammenarbeit der Bundes- und Landespolitik mit dem ländlichen Raum wünschen. Der Erfolg der Energiewende wird nicht in Berlin oder Stuttgart entschieden, sondern zum Beispiel im Allgäu, dem vorpommerschen Plattland und auf der schwäbischen Alb. Dazu wünschen wir uns – spiegelbildlich – auch eine größere „Transformationsoffenheit“ von den ländlichen Regionen Deutschlands, insbesondere in den neuen Bundesländern. Allgemeiner Klimawandel-Skeptizismus oder populistische Vorstellungen von „die da oben wollen uns alles vorschreiben“ bringen uns nicht weiter – die meisten Energie-Potenziale liegen im ländlichen Raum, also muss dieser sich auch dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung annehmen. Gerne mit stolzer Brust statt einem abgewandten Rücken!

Melanie Mbah: Von der Wissenschaft wünschen wir uns mehr Offenheit gegenüber transdisziplinären Ansätzen, also einer kollaborativen Wissenschaft mit Praxisakteuren. Das heißt die Offenheit für das Forschen nicht nur in und über die eigene Disziplin und das jeweilige Forschungsfeld, sondern mit der Gesellschaft und Praxis. Die Energiewende ist kein Elfenbeinturm-Thema, sondern eine ganz praktische, manchmal auch ermüdend kleinteilige, aber sehr wichtige, gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Hierbei wäre uns wichtig, mehr Anerkennung und Verständnis gegenüber den Aktivitäten und Leistungen gerade auch sozialwissenschaftlicher und transdisziplinärer Forschung in diesem Bereich zu zeigen. Es ist auch wichtig zu tolerieren, dass es sich hier um eigene Ansätze und Forschungsmodi handelt, die nicht der Akzeptanzbeschaffung dienen, sondern dem Entwickeln gemeinsamer, gesellschaftlich robuster Lösungen.

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