„Die österreichische Ablehnung der Kernkraft hat sich verfestigt“
Atomkraft oder nicht? Diese Frage stellt sich in Österreich schon lange nicht mehr. Denn Ende der 1970er Jahre verhinderte eine Volksabstimmung die Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Atomkraftwerks, kurze Zeit später folgte ein landesweites Atomsperrgesetz. Dennoch gibt es auch in unserem Nachbarland Menschen, die sich mit der Kernkraft, ihren Gefahren, ihren Hinterlassenschaften beschäftigen. So Gabriele Mraz, Wissenschaftlerin am Österreichischen Ökologie-Institut, dem „wissenschaftlichen Arm der Umwelt- und Anti-Atombewegung“. Sie forscht etwa zur Frage, wie sich Organisationen auf einen atomaren Unfall vorbereiten können. „Mein Eindruck ist, dass viele Menschen sich nicht bewusst sind, dass es jederzeit einen schwerwiegenden Unfall geben kann, der auch Österreich betrifft“, sagt die Nuklearexpertin, „deswegen kennen viel zu wenige Menschen die bestehenden Notfallpläne – auch wenn in der Corona-Pandemie das Bewusstsein für Krisen gewachsen ist.
Ein (fast) atomfreies Land
Es war 1978, als eine knappe Mehrheit sich gegen das AKW Zwentendorf stellte. „Die politischen Entscheider*innen in Österreich wollten Anfang der 1970er Jahre in die Kernenergie einsteigen“, erklärt Gabriele Mraz. „Doch die Menschen haben sich informiert – auch über die Risiken für Menschen und Umwelt.“ Im selben Jahr gab es ein Atomsperrgesetz, das 1999 novelliert wurde und seither als Bundesverfassungsgesetz für ein atomfreies Österreich Verfassungsrang hat. Und so gibt es bis heute in Österreich keine kommerziellen Kernkraftwerke. „Die Ablehnung der Menschen hat sich verfestigt – über alle Generationen, Parteien und Berufsgruppen hinweg. Das ist keinesfalls selbstverständlich.“ Auch auf höchster politischer Ebene ist die Haltung zur Kernenergie offensichtlich: Erst vor kurzem hat das österreichische Klimaschutzministerium die Publikation „Die Märchen der Atomlobby“ herausgegeben.
Die Ablehnung der Kernenergie in Österreich verfestigte sich ebenfalls in Folge der Katastrophe von Tschernobyl. „Die Radioaktivität, die sich auch in Europa verteilte, hat Österreich relativ stark betroffen. Gleichzeitig waren wir auf diese Katastrophe nicht wirklich vorbereitet. So gab es zwar ein Strahlenfrühwarnsystem – dieses war aber im April 1986 noch in Kartons verpackt.“
Die Kernschmelze in der Ukraine war für Gabriele Mraz beruflichen Weg ein entscheidender Moment. Sie war gerade mitten im Studium, entschied sich kurzentschlossen, das Fach zu wechseln und sattelte auf Radioökologie um. „Ich wollte mich gegen die Kernkraft engagieren.“ Ihre Diplomarbeit verfasste sie zu Einträgen von Radionukliden in die sensiblen arktischen Nahrungsketten sowie die Folgen für die menschliche Ernährung am Beispiel der nordost-sibirischen Tschukotka. „Leider ist die Nutzung der Kernkraft seit 1986 aber nicht sicherer geworden.
Jenseits der eigenen Grenzen
Die Ablehnung der Kernenergie durch Österreich macht nicht an den eigenen Grenzen halt. So bringt sich das Land zum Beispiel bei Beteiligungsverfahren in anderen Ländern ein. „Das ergibt sich aus der grundsätzlichen Ablehnung der Kernenergienutzung. So steht etwa im aktuellen Regierungsprogramm 'Österreichischen Anti-Atomkraft-Weg konsequent fortsetzen'.“ Österreich beteilige sich nicht an jedem europäischen Projekt, sagt die Expertin. „Im Fokus stehen die Neubauprojekte, etwa in Tschechien, Ungarn und UK, sowie grenznahe Endlagerprojekte. Aber auch der Laufzeitverlängerung von Reaktoren in der Ukraine oder in Finnland hat sich Österreich gewidmet.“ Eine wichtige Arbeit, der sich eine Abteilung im Klimaschutzministerium, aber auch verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGOs) annehmen. „Wir haben eine sehr aktive NGO-Szene, die die Augen offen hält und schnell den Finger hebt, wenn etwas in die falsche Richtung läuft“, sagt Gabriele Mraz. Und: „Es macht ja auch Sinn, die Atomkraft nicht nur in Österreich abzulehnen – schließlich sind wir von grenznahen Kernkraftwerken umrundet.“ Bei den Beteiligungsverfahren sind auch Gabriele Mraz, das Österreichische Ökologie-Institut und das dazugehörige Beratungsunternehmen, die pulswerk GmbH, immer wieder involviert. „Wir erstellen zum Beispiel für das österreichische Umweltbundesamt Gutachten zu Umweltverträglichkeitsprüfungen.
Wider die Taxonomie
Derzeit widmet sich Österreich auch länderübergreifend dem Kampf gegen Atomkraft: das Land wehrt sich gegen die Aufnahme der Kernenergie in die so genannte EU-Taxonomie, die Investitionen in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten lenken soll. Österreich hat im Oktober 2022 Klage dagegen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. „Für die Aufnahme in die EU-Taxonomie müsste die Atomkraft einen signifikanten Beitrag zu einem Umweltziel leisten. Da stellt sich die Frage: Reicht hierfür eine relative CO2-Armut?“ Gleichzeitig müsse betrachtet werden, wie hoch das Unfallrisiko der Reaktoren sei und welch enorme Schäden die Kernenergie anrichten könne. „Hinzu kommen unter anderem auch die ungeklärte Abfallentsorgung sowie die sozialen und ökologischen Folgen des Uranabbaus.“
Fraglich sei der Beitrag der Kernenergie zum Klimaschutz auch, weil der Bau von Kernkraftwerken sich über einen sehr langen Zeitraum ziehe. „Und das auch nur, wenn wir davon ausgehen, dass sie überhaupt fertig gebaut werden. Gleichzeitig bringen uns neue Reaktoren auch nichts, die ihren Brennstoff aus Russland beziehen, wenn wir die Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen.“ Aus Sicht der österreichischen Nuklearexpertin ist die Kernenergie daher „noch nicht einmal eine Übergangstechnologie“. Von der Taxonomie profitiere zudem vor allem Frankreich – um günstiges Geld über die Taxonomie zu bekommen, müssen Kriterien wie etwa die Errichtung eines Endlagers für abgebrannte Brennelemente bis 2050 erfüllt werden. „Vielleicht werden Finnland und Schweden, Deutschland und Frankreich bis dahin so weit sein. Aber das war es dann auch schon. Tschechien etwa hat einen Zeithorizont bis 2065.“ Gabriele Mraz wünscht sich auch, dass Deutschland auf europäischer Ebene eine stärkere Rolle einnimmt und hätte sich eine deutsche Beteiligung an der Klage gegen die EU-Taxonomie erhofft
Jahrhundertaufgabe Endlagerung
Zu einem Vorbild könne Deutschland für Österreich hingegen in Sachen Endlagerung werden. Denn auch, wenn es hier keine kommerziellen Atomkraftwerke gibt und die wenigen Brennelemente aus Forschungsreaktoren in die USA zurückgeschickt werden, fallen doch schwach- und mittelradioaktive Abfälle an. So etwa aus der Dekommissionierung der Forschungsreaktoren, aus der Industrie oder der Medizin. „Österreich steht noch ganz am Anfang, wir müssten hier viel weiter sein. Doch viele wissen hierzulande überhaupt nicht, dass es auch in Österreich radioaktive Abfälle gibt, die entsorgt werden müssen“, sagt die Wissenschaftlerin, die auch Mitglied des österreichischen Entsorgungsbeirats ist. „Deutschland ist mit dem Standortauswahlgesetz und dem Zwischenbericht Teilgebiete hier sehr viel weiter. Aus den Erfahrungen mit dem Verfahren dort können wir viel lernen.“
Gabriele Mraz studierte Ernährungswissenschaften an der Universität Wien mit dem Schwerpunkt Chemie und Radioökologie. Seit 1988 ist sie am Österreichischen Ökologie-Institut tätig. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin befasst sie sich hier unter anderem mit den Themen Strahlenschutz und Strahlenwirkung, Nuklearpolitik sowie radioaktive Abfälle. Darüber hinaus ist sie seit 2014 als Senior Expertin für die pulswerk GmbH, das Beratungsunternehmen des Österreichischen Ökologie-Instituts, tätig und leitet seit 2015 ein europäisches Expert:innenteam, das das Umweltbundesamt in Atomfragen berät-
Gabriele Mraz ist Mitglied im österreichischen Entsorgungsbeirat sowie seit 2015 bei Nuclear Transparency Watch und seit 2018 bei der International Nuclear Risk Assessment Group (INRAG). Die Nuklearexpertin nimmt seit 2019 am Forschungsprojekt European Joint Programme on Radioactive Waste Management (EURAD) als Expertin der Zivilgesellschaft teil.
Weitere Informationen
Website des Österreichischen Ökologie-Instituts
Mitarbeiterinnenseite von Gabriele Mraz auf der Website des Österreichischen Ökologie-Instituts