Entsorgung von Atommüll: Partizipation anhand der Ortsverbundenheit individuell gestalten

die Bedeutung von Orten berücksichtigen
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Für die Endlagerung werden – entweder kurz- oder auch langfristig – Verkehrswege, Zwischen-, Eingangslager und weitere notwendige Infrastrukturanlagen gebaut. Bereits der Prozess der Standortsuche mit der Auswahl eines Endlagerstandortes ist ein entscheidender Faktor für Erfolg oder Misserfolg beziehungsweise Akzeptanz oder Ablehnung des Projekts. Hinzu kommen dann in der Umsetzung die mit den Infrastrukturanlagen einhergehenden großen Auswirkungen auf die Bevölkerung vor Ort. Es ist daher umso wichtiger, dass Vertrauen in das staatliche Handeln besteht oder dieses Vertrauen im Prozess aufgebaut wird. Die Bevölkerung vor Ort braucht Verlässlichkeit und Transparenz in einem Vorhaben, das mit großen Risiken über einen sehr langen Zeitraum verbunden ist. Die Ortsverbundenheit hat Einfluss auf alle Verfahrensschritte, ist lokal und regional aber ganz unterschiedlich ausgeprägt.
Der Ansatz der Ortsverbundenheit
Bislang werden sozial-psychologische Wirkungen bei Infrastrukturvorhaben nicht berücksichtigt, sie spielen für deren Akzeptanz seitens der Bürger*innen allerdings eine große Rolle, denn Suche und Bau eines Endlagers impliziert konkrete Eingriffe in das Landschaftsbild der jeweiligen Region. Es geht um die Wahrnehmungen und Einstellungen gegenüber den technologischen Artefakten eines Endlagers. Ein Endlager – egal ob ober- oder unterirdisch – beeinflusst, wie der Ort, an dem es entsteht, wahrgenommen wird.
Mit dem Ansatz der Ortsverbundenheit wird berücksichtigt, welchen Wert die Menschen ihrem Wohnort beziehungsweise ihrer Region beimessen und wie sich dieser im Prozess bis hin zum Bau und der Überwachung des Endlagers wandelt. Die Ortsverbundenheit ist lokal und regional unterschiedlich. Sie wird durch Transformationen und Erfahrungen geprägt, aber auch von sozialen Beziehungen oder davon, wie „schön“ eine Region wahrgenommen wird. Ihre Ausprägung gibt jeweils den Rahmen für das kollektive Handeln vor. Verschiedene Aspekte prägen den Grad der Ortsverbundenheit und damit den Zusammenhalt zwischen Individuen vor Ort beziehungsweise die Wahrscheinlichkeit des Entstehens kollektiver Handlungen .
Abbildung: Aspekte der Ortsverbundenheit, die kollektives Handeln fördern
eig. Darstellung nach Mihaylov, N.; Perkins, D. D. (2014): Community place attachment and its role in social capital development.
Drei Regionen, drei individuelle Ausprägungen von Ortsverbundenheit
Der Landkreis Görlitz, der Kreis Recklinghausen und der Landkreis Heilbronn dienten – im Rahmen eines Arbeitspaketes innerhalb des TRANSENS Projekts (konkret: Modul 2 “Raumwirkungen und Governance” des Transdisziplinären Arbeitspaketes HAFF “Handlungsfähigkeit und Flexibilität in einem reversiblen Verfahren”) – als Fallbespiele für die detaillierte Untersuchung zu Raumwirkungen und damit insbesondere Ortsverbundenheit. Hier zeigen sich beispielhaft die regional verschiedenen Identitäten.
Es hat sich gezeigt, dass die Ortsverbundenheit in der Region Recklinghausen beziehungsweise im Ruhrgebiet viel weniger über die Landschaft als über die Menschen und sozialen Beziehungen ausgeprägt ist. Es gibt bereits zahlreiche Industrieanlagen, sodass eine weitere Anlage nicht übermäßig ins Gewicht fällt. Einem potenziellen Verlust zusätzlicher Fläche gilt es dennoch sensibel zu begegnen. Die Nutzung bereits versiegelter Flächen bei Infrastrukturvorhaben ist zu bevorzugen.
Im Landkreis Görlitz ist die Ortsverbundenheit ebenfalls stark an soziale Beziehungen geknüpft. Es gibt ein ausgeprägtes kommunales Zugehörigkeitsgefühl, das mit der lokalen Politik, Sportvereinen und der Landwirtschaft verbunden ist. Mit zunehmender Bedeutung touristischer Angebote ist mittlerweile auch eine Sensibilität in Bezug auf landschaftliche Veränderungen zu erkennen. Die Transformationserfahrung, die mit dem Braunkohleabbau einherging und der Renaturierung dieser Flächen noch einhergeht, wird in Hinsicht auf die Renaturierung positiv wahrgenommen. Der damit verbundene Arbeitsplatzverlust, Abwanderung sowie damit wachsender Leerstand in den Innenstädten wirken dahingegen negativ nach.
Im Kreis Heilbronn ist die Verbundenheit mit der Landschaft stark ausgeprägt, besonders über den Weinbau und dem mit Genuss und Erholung in Verbindung stehenden Landschaftsbild. Auch der schwäbische Dialekt wirkt als verbindendes Element und sorgt für Gemeinschaftsgefühl. Netzwerke, Freunde, Sport und das Vereinswesen schaffen Zugehörigkeit. Im Projekt involvierte Bürger*innen aus der Region verwiesen darauf, dass Änderungen möglichst landschaftsschonend sein sollten. Das in der Region verortete Kernkraftwerk Neckarwestheim wurde als Beispiel genannt, da dessen Bau sich zurückhaltend in die Landschaft integriert.
Es zeigt sich, dass große Infrastrukturvorhaben mit einhergehendem Landschaftswandel generell eher negativ aufgenommen werden, insbesondere dann, wenn die Landschaft als naturnah und schön empfunden wird. Dahingehen werden etwaige Vorhaben in industriell oder durch anderweitige Transformationen geprägte Regionen als weniger intensiv oder “bedrohlich” empfunden.
Starke Ortsverbundenheit braucht Partizipation im gesamten Prozess: raumsensible Long-term Governance
Prinzipiell gilt, je stärker der Grad der Ortsverbundenheit ist, desto eher sind Partizipationsmöglichkeiten gewünscht und nachgefragt. Die Mitsprache ist umso wichtiger, wenn ‚grüne‘ Erholungsorte nur begrenzt verfügbar oder essenzieller Bestandteil der Ortsverbundenheit – beispielsweise auch über die wirtschaftliche Inwertsetzung von Landschaft (Landwirtschaft und Tourismus) sind. Die Öffentlichkeit sollte in die Planung, die Realisierung und den Betrieb eines Endlagers für radioaktive Abfälle einbezogen werden. Die Formen der Beteiligung sind jedoch regional spezifisch anzupassen und ändern sich zudem im Laufe des Prozesses. Lokale und regionale Anforderungen an die Teilnahme und die regionale Entwicklung über unterschiedliche Formen der Partizipation können in eine Long-term – also langfristig angelegte, vorausschauende – Governance integriert werden. Die raumsensible Long-term Governance berücksichtigt die unterschiedlichen Perspektiven auf dem Entsorgungspfad. Das beginnt bereits bei der Standortauswahl.
Abbildung: raumsensible Long-term Governance über die Phasen des Entsorgungspfades
veränderte Darstellung auf Basis von Mbah, M.; Kuppler, S. (2021): Raumsensible Long-term Governance zur Bewältigung komplexer Langzeitaufgaben.
Die Governance setzt bei der Standortauswahl auf Transparenz, Partizipation sowie Wissenschaftsbasierung. Bei einer raumsensiblen Long-term Governance steht eine umfassende Kontextanalyse am Beginn. Sie gibt Aufschluss zu den vordergründigen Aspekten der Ortsverbundenheit. Auf deren Basis werden regional passende partizipative Elemente entwickelt, die im Prozess jedoch stetig adaptiert werden müssen. Es braucht bedarfsgerechte und zielorientierte Beteiligungsformen. Nicht alle Bürger*innen vor Ort möchten aktiv eingebunden werden, einigen reicht es, informiert zu werden, andere wollen aktiv mitgestalten. Partizipation und Kommunikation sollten jedoch zu jederzeit möglich sein. Ganz praktisch sollten lokale und regionale Netzwerke als Ausgangspunkt für die Entwicklung partizipativer Elemente dienen – so kann an bestehendes angeknüpft und Vertrauen geschaffen werden. Unterstützend sind zudem die Entwicklung und Betonung eines Wir-Gefühls in der zukünftigen Endlager-Region.
Eine raumsensible Long-term Governance, welche die Besonderheiten der Ortsverbundenheit und damit einhergehenden Bedürfnisse berücksichtigt, könnte sich über den gesamten Prozess und darüber hinaus positiv auswirken. Denn auch nach dem Bau des Endlagers sind Kommunikation und Wissensaufbewahrung unerlässlich. Mit Verschluss des Endlagers sinken aber die Ressourcen zum Beispiel hinsichtlich des verfügbaren Personals und damit nimmt das Wissen um die Abfälle und die Endlagerung insgesamt vor Ort und in der Region ab. Die Entwicklung eines nuklearen kulturellen Erbes oder Gedächtnisses könnte einem Wissensverlust vorbeugen und damit auch die Rückholbarkeit noch 500 Jahre, nachdem das Lager geschlossen wurde, positiv beeinflussen.
Wissenserhalt durch die Schaffung eines nuklearen kulturellen Erbes
Ein nukleares kulturelles Erbe bezeichnet Objekte, Handlungen und Wahrnehmungen als sogenannte Praktiken, die im Zusammenhang mit der nuklearen Vergangenheit und Gegenwart eines Ortes oder einer Region stehen und als relevant und wichtig für die Zukunft angesehen werden. Die Entwicklung und das Verstetigen eines nuklearen kulturellen Erbes beinhaltet das Identifizieren, Sammeln, Aufbewahren und das Kommunizieren über nukleartechnologische Artefakte und auch die während des Prozesses etablierten sozialen Praktiken hinsichtlich des Austausches und der Partizipation. Beispiele für soziale Praktiken sind unter anderem das Kuratieren von Ausstellungen in Museen, das Entwickeln aber auch Begehen von Lehrpfaden oder auch Vereinstätigkeiten, die der Erinnerung an das nukleare kulturelle Erbe dienen. Auf diese Weise würde der Zugang zu Informationen und Wissen über nukleartechnologische Objekte und Orte sichergestellt. Dafür bedarf es allerdings ausreichender finanzieller und auch personeller Ressourcen.
Dr. Melanie Mbah ist Forschungskoordinatorin für transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung beim Öko-Institut und in der Gesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung engagiert.
Weitere Informationen
Fachartikel „Governing Nuclear Waste in the Long Term: On the Role of Place.”
Bericht „Aspekte einer raumsensiblen Long-term Governance der Endlagerung“ des Öko-Instituts
Mit dem Projekt TRANSENS wurde erstmalig in Deutschland transdisziplinäre Forschung zur nuklearen Entsorgung in größerem Maßstab betrieben. TRANSENS war ein Verbundvorhaben, in dem 16 Institute beziehungsweise Fachgebiete von neun deutschen und zwei Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen im Zeitraum von 2019 bis 2025 zusammenarbeiteten. Das Vorhaben wurde vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sowie vom Niedersächsischen Vorab der Volkswagenstiftung gefördert.
Der inhaltliche Fokus des Projekts lag auf der transdisziplinären Entwicklung – also zwischen Forschenden und Praxisakteuren gemeinsam – robusten Lösungsansätzen für die sichere Entsorgung und Lagerung hochradioaktiver Abfälle. Neben technischen Lösungen sind damit verbundene gesellschaftliche und politische Prozesse Bestandteil der Forschung. Methodisch wurden Partner*innen aus der Praxis – darunter Ingenieur*innen, Geolog*innen, Ökonom*innen oder auch Politikwissenschaftler*innen, Bürger*innen und Zivilgesellschaft in den einzelnen Arbeiten eingebunden.