#FaktencheckAtomkraft 2: Sind die Atomreaktoren der neuen Generation 100-prozentig sicher?/ #FactcheckNuclearPower 2: Are the new nuclear reactors 100 percent safe? [deu/engl]
Zum 34. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl im April 2020 hat das Öko-Institut die Blog-Reihe #FaktencheckAtomkraft gestartet. In den letzten Monaten sind in der öffentlichen Diskussion und in den Medien öfter Argumente zu lesen und zu hören, die für die totgeglaubte Atomkraft wieder eine Zukunft sehen. Wir überprüfen die Argumente und unterziehen sie einem wissenschaftlichen #FaktencheckAtomkraft.
#FaktencheckAtomkraft 2: Sind die neuen Atomreaktoren 100-prozentig sicher?
In einem Atomkraftwerk werden große Mengen Energie freigesetzt. Auch nach der Abschaltung eines Reaktors entsteht noch für lange Zeit die Nachwärme aus dem Zerfall der radioaktiven Stoffe. Bei einem Verlust der Kühlung kann der Reaktorkern beschädigt werden und es droht eine massive Freisetzung von Radioaktivität mit katastrophalen gesundheitlichen, sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen für Mensch und Umwelt. Auch andere Unfallszenarien sind möglich.
Bei der Auslegung, dem Bau und dem Betrieb von Atomkraftwerken werden umfangreiche Vorkehrungen getroffenen, um die Anlagen sicherer zu machen. Dennoch können schwere Unfälle nicht ausgeschlossen werden.*
Will man die Bedeutung von zukünftigen Atomkraftwerken zur Lösung der Gefahr schwerer Unfälle überprüfen, kommen zwei Argumente zum Tragen: Es geht einerseits um die neue Qualität der Atomkraftwerke, denn diese sollen sicherer werden, als die derzeitig im Bau befindlichen. Andererseits spielt aber auch die zeitliche Dimension eine wichtige Rolle, also wann die zukünftigen Atomkraftwerke zur Verfügung stehen könnten.
Die erste Generation früher Prototypreaktoren entstand in den Jahren zwischen 1950 und 1960. Eine zweite Generation großer Leistungsreaktoren, die heute noch in Betrieb sind, wurden ab den 1970er Jahren in Betrieb genommen. Eine dritte Generation fortgeschrittener Leistungsreaktoren wurden seit etwa 1990 geplant, erste Reaktoren einer weiterentwickelten Generation drei plus werden gegenwärtig in Betrieb genommen.
Diese Reaktoren der dritten Generation, die derzeit auf dem Markt sind, stellen kontinuierliche Weiterentwicklungen der bisherigen Technik dar. Ein Beispiel ist der Europäische Druckwasserreaktor (European Pressurized Reactor - EPR). Die Reaktoren sind zwar technisch auf einem neuen Stand, können aber die bisherigen Probleme der Kernenergie nicht grundsätzlich lösen. Wenn von 100-prozentig sicheren Reaktoren geredet wird, so sind in aller Regel Konzepte einer sogenannten vierten Generation gemeint.
Neue und bessere Reaktoren?
Seit mehreren Jahrzehnten werden international solche „neuen Reaktorkonzepte“ einer sogenannten Generation IV erforscht. Erklärtes Ziel solcher Entwicklungen ist es, in den Bereichen Sicherheit, Nachhaltigkeit, Ökonomie und Nukleare Nichtverbreitung gegenüber heutigen Kernkraftwerken deutliche Vorteile aufzuweisen.**
Insgesamt kann für Konzepte der Generation IV festgestellt werden, dass zwar einzelne der untersuchten Reaktorkonzepte in einzelnen dieser Bereiche tatsächlich potenzielle Vorteile gegenüber der heutigen Generation von Kernkraftwerken erwarten lassen. Kein Konzept ist jedoch in der Lage, gleichzeitig in allen Bereichen Fortschritte zu erzielen.
Zu Reaktorkonzepten wie Salzschmelze-Reaktoren oder Hochtemperatur-Reaktoren finden sich in den Medien vielfach auch Aussagen, dass diese Konzepte „inhärent sicher“ seien. Die Wortwahl suggeriert, dass es für diese Reaktoren keine Sicherheitsrisiken gibt. Dem liegt jedoch häufig ein falsches Verständnis des Konzepts der „inhärenten Sicherheit“ zugrunde. Zwar weisen solche Reaktorkonzepte mit Blick auf ganz bestimmte Sicherheitsrisiken „inhärente“ Eigenschaften auf, die dieses konkrete Risiko minimieren oder ganz ausschließen können. Für andere Stör- und Unfallszenarien bleiben jedoch offene Fragen, bzw. es ergeben sich andersartige Risiken, die für heutige Kernkraftwerke keine wichtige Rolle spielen. Auch mögliche Gefahren durch externe Einwirkungen wie Erdbeben und Überflutungen oder auch terroristische Anschläge müssen dabei berücksichtigt werden. Der Nachweis der tatsächlichen Umsetzbarkeit eines höheren Sicherheitsniveaus in einem konkreten Reaktorkonzept ist bislang nicht erfolgt.
Wann kommen die neuen Reaktoren?
Praktisch alle dieser Reaktorkonzepte wurden bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts in verschiedenen Varianten diskutiert und sind in diesem Sinne nicht neu. Trotz einer seit Jahrzehnten immer wiederkehrenden Diskussion um eine „Renaissance“ der Kernenergie und trotz Aussagen, dass solche Konzepte kurz vor der Markteinführung stehen, hat sich bislang jedoch noch kein konkretes Reaktorkonzept am Markt durchsetzen können.
Exkurs: Beispiel Hochtemperatur-Reaktor: In Südafrika befand sich seit 1998 ein so genannter Hochtemperatur-Kugelhaufenreaktor in der Entwicklung. Dieser ursprünglich seit den 1960er Jahren bis 1988 in Deutschland entwickelte Reaktortyp sollte in Südafrika als Prototypreaktor errichtet werden. Beim offiziellen Projektstart im Jahr 1998 sahen die Planungen vor, dass ein Prototyp im Jahr 2003 in Betrieb gehen sollte. Bereits ab 2004 sollte der Reaktor kommerziell angeboten werden, wobei die Entwickler mit einer Nachfrage von bis zu zehn Anlagen pro Jahr rechneten. Bereits bis 2006 stiegen die Kostenschätzungen des Projekts um etwa einen Faktor zehn an. Noch im August 2008 schloss die Betreibergesellschaft Verträge ab und bestellte größere Bauteile für den Prototypreaktor. Im Februar 2009 stoppte die Gesellschaft die bereits abgeschlossenen Verträge jedoch wieder und verwies auf Finanzierungsschwierigkeiten. Anfang 2010 hat sich die südafrikanische Regierung aus der Förderung des Kugelhaufenreaktors zurückgezogen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren etwa eine Milliarde Euro in das Projekt investiert worden.
Selbst nach Einschätzungen der Entwickler werden die Reaktoren der Generation IV frühestens 2045 marktfähig sein, eher später. Für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts gehen selbst die Entwickler davon aus, dass die Generation IV-Reaktoren nur in Ergänzung zu bisherigen Anlagen verwendet werden.***
Fazit
Sollten Reaktoren der Generation IV also tatsächlich sicherer sein, dann wird sich das nur in geringem Maße auf unsere nahe Zukunft auswirken. Für die dringende Umstellung unserer Energiesysteme zum Schutze des Klimas kommen solche Reaktorkonzepte jedenfalls zu spät.
Dr. Christoph Pistner ist Physiker und leitet den Bereich Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Standort Darmstadt. Er ist Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesumweltministeriums sowie Vorstandsmitglied im Forschungsverbund Naturwissenschaft, Abrüstung und internationale Sicherheit (FONAS).
Quellen
*Für eine ausführlichere Diskussion zu Sicherheit von AKW siehe beispielsweise: Neles, J. M. & Pistner, C. (Hrsg.) (2012): Kerntechnik. Eine Technik für die Zukunft? (Technik im Fokus). Berlin, Heidelberg: Springer Vieweg.
**Quelle: Generation IV International Forum.
english version
#FactcheckNuclearPower 2: Are the new nuclear reactors 100 percent safe?
On 26 April 2020 – the 34th anniversary of the Chernobyl disaster – the Oeko-Institut launches a new blog, titled #FaktencheckAtomkraft (#FactcheckNuclearPower). In recent months, various arguments have been aired and shared in the media and the broader debate within society that see a future for the supposedly defunct nuclear energy industry. We examine the arguments and subject them to a scientific #FactcheckNuclearPower.
The fission process that occurs in a nuclear power plant releases large amounts of energy. Even after a reactor is shut down, residual heat continues to be generated for some time; this is caused by the decay of radioactive elements. A loss of coolant can result in damage to the reactor core and, potentially, to the release of large quantities of radioactive material, with catastrophic consequences for human health, society, the economy and the environment.Other accident scenarios are also possible.
Multiple precautions are therefore taken in the design, construction and operation of nuclear power plants in order to make these facilities safer. Nevertheless, serious accidents cannot be ruled out (for a more detailed discussion of nuclear power plant safety, see, for example: Neles, J. M. & Pistner, C. (eds.) (2012): Kernenergie: Eine Technik für die Zukunft? (Technik im Fokus). Berlin, Heidelberg: Springer Vieweg).
When assessing the role of future generations of nuclear power plants in mitigating the risk of serious accidents, two arguments come into play. First, there is the new quality of these nuclear power plants, which, it is claimed, will be safer than those being built now. Secondly, timescale is a further key factor; here, the question is when these future nuclear power plants might become available.
The first generation of early prototypic reactors was developed between 1950 and 1960. A second generation of large power reactors came into service from the 1970s onwards and are still in operation today. A third generation of advanced reactors has been planned since around 1990; the first Generation III+ advanced reactors are now coming into operation.
The third-generation reactors currently on the market offer continuous improvements on the previous technology: the European Pressurised Reactor (EPR) is one example. These reactors take the technology to the next level, but are unable to provide a comprehensive solution to the problems hitherto affecting nuclear energy. So when people talk about reactors that are 100% safe, they generally mean Generation IV designs.
New and better reactors?
International researchers have been working on “new reactor designs” for Generation IV for several decades. The stated aim of this R&D is to make substantial progress in the fields of safety, sustainability, commercial viability and nuclear non-proliferation compared with the present generation of nuclear power plants (source: Gen IV International Forum).
As a general observation: several of the Generation IV reactor designs being researched do indeed offer improved performance in a number of these areas compared with today’s nuclear power plants. However, none of the designs is able to offer these improvements in all areas simultaneously.
Some of the designs – such as molten salt reactors and high-temperature reactors – are frequently the subject of media claims that they are “inherently safe”. The choice of words implies that these reactors pose no safety risks. But this is often based on a misunderstanding of the concept of “inherent safety”. Granted, some reactor designs include “inherent” features that address specific safety risks. Their purpose is to minimise that particular risk, or to rule it out completely. However, they leave unresolved issues relating to other incident or accident scenarios, or they may be affected by other types of risk which are less relevant to the present generation of nuclear power plants. Potential external hazards, such as earthquakes and floods or even terrorist attacks, must also be considered. Thus far, there is no evidence that a specific reactor design is genuinely capable of delivering a higher level of safety across the board.
When will the new reactors be ready?
Variants of almost all these reactor designs have been under discussion since the mid-20th century and, in that sense, are not new. Despite decades of intermittent debate about the “renaissance” of nuclear energy, and notwithstanding claims that these designs are close to commercial viability, none of these reactor designs has become established in the market.
Excursus: Example high temperature reactor: In South Africa, a high-temperature pebble-bed reactor had been in development since 1998. Originally developed in Germany from the 1960s to 1988, there were plans to build a prototype reactor in South Africa. When the project was officially launched in 1998, it was envisaged that a prototype would come into operation in 2003. The reactor would then be commercially available from 2004, with the developers anticipating demand for up to 10 systems per year. By 2006, however, the estimated costs of the project had increased around tenfold. In August 2008, the operating company was still signing contracts and ordering large components for the prototype reactor. In February 2009, the company then cancelled the signed contracts, citing financial problems. In early 2010, the South African government withdrew funding for the reactor. By then, total investment in the project amounted to around one billion euros.
According to the developers’ own estimates, the Generation IV reactors will not be market-ready until 2045 at the earliest and probably not until later. For the second half of the 21st century, the developers themselves say that Generation IV reactors will be deployed solely to complement existing reactors (source: GIF R&D Outlook for Generation IV Nuclear Energy Systems: 2018 Update,https://www.gen-4.org/gif/upload/docs/application/pdf/2019-06/7411_gif_r_and_d_outlook_update_web.pdf, last accessed on 20 April 2020).
Conclusions
Even if Generation IV reactors genuinely prove to be safer, this will have very little bearing on our immediate future. These reactor designs will certainly not be available in time to contribute to the energy system transformation that is needed to protect the climate.
Dr Christoph Pistner is a physicist and Head of the Oeko-Institut’s Nuclear Engineering & Facility Safety Division in Darmstadt. He is a member of the Reactor Safety Commission (RSK) of the Federal Ministry for the Environment, Nature Conservation and Nuclear Safety (BMU) and sits on the Board of the Research Association for Science, Disarmament and International Security (FONAS).
Sources:
Pistner, C., Englert, M.: Neue Reaktorkonzepte. Eine Analyse des aktuellen Forschungsstands. Darmstadt 2017. [New reactor designs: an analysis of current research] https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/Neue-Reaktorkonzepte.pdf
Presentation by Dr Christoph Pistner: “Propaganda versus reality of ‘New Generation of Reactors’ (Gen IV) – An (updated) assessment”, 2019. https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/Global-2000-Gen-IV.pdf