Fit for 55: „Der Vorschlag der EU-Kommission hat viele positive Seiten“
Im Juli 2021 hat die EU-Kommission das Fit for 55-Paket vorgelegt. Mit ihm soll es möglich werden, die Treibhausgasemissionen der Europäischen Union bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. In unserer Reihe zum Fit for 55-Paket zeigen wir unterschiedliche Perspektiven auf den Vorschlag der Europäischen Kommission. Agora Energiewende hat bereits vor der Veröffentlichung des Fit for 55-Pakets eine mehrere Publikationen vorgelegt, wie sich das europäische Klimaziel mit sinnvollen Maßnahmen hinterlegen lässt. Der Projektleiter Europäische Klimapolitik bewertet den Vorschlag der EU-Kommission – auch vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs.
Andreas Graf, Projektleiter bei Agora Energiewende; Quelle: Agora Energiewende
Schon bevor die Europäische Kommission im Juli 2021 ihren Vorschlag vorgelegt hat, wie die EU ihr Klimaziel bis 2030 erreichen kann, hat sich der energie- und klimapolitische Thinktank Agora Energiewende möglichen Maßnahmen gewidmet. „Wir haben uns ausführlich mit unterschiedlichen Instrumenten beschäftigt, die gebraucht werden, um die Emissionen um 55 Prozent zu senken“, sagt Andreas Graf. Der Projektleiter Europäische Klimapolitik sieht – auch mit Blick auf die eigene Arbeit vor der Veröffentlichung – viele positive Seiten am Vorschlag der EU-Kommission. „Er ist der Größe der Aufgabe angemessen. Und auch die Reihenfolge ist sinnvoll: Erst ein Klimaziel festlegen und es dann mit Rechtsvorschriften und Politikmaßnahmen unterfüttern.“
Zentral ist aus seiner Sicht auch das „europäische Element“: ein gemeinsames Ziel, für das es eine gegenseitige Unterstützung der Mitgliedstaaten geben soll. Und nicht zuletzt europäische Politikinstrumente wie europäische CO2-Standards für PkW und eine stärkere europäische Bepreisung von CO2. „Mit dem neuen, separaten Emissionshandel für Gebäude und Verkehr hat die Kommission Neuland betreten und ein wichtiges Instrument vorgeschlagen, mit dem die Länder ihre Klimaziele erreichen können.“
Landnutzung und internationaler Klimaschutz
Auch neue nationale Ziele für den LULUCF-Sektor (Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft) sieht der Energieexperte positiv. „In Zukunft sollen natürliche Senken stärker ausgebaut werden, damit in Zukunft Emissionen und Senken in einen Ausgleich gebracht werden.“ Gleichzeitig betont er aber auch: „In vielen Ländern gehen die Senken zurück und es ist fraglich, ob die diesbezüglichen Ambitionen wirklich umsetzbar sind. Hier wird man sehr genau planen müssen, wie man es schafft, schonender mit Ressourcen umzugehen und diese nicht nur zu erhalten, sondern auch auszubauen. Dazu gehört auch, Biodiversität stärker zu schützen.“
Das Fit for 55-Paket könnte auch eine Ausstrahlungskraft auf Länder außerhalb Europas haben, so der Projektleiter von Agora Energiewende. „Wenn Europa konsequent in Richtung Klimaneutralität geht und ein treibhausgasarmes Wirtschaften zum Standard macht, wird das auch Auswirkungen auf jene Länder haben, die mit der EU handeln.“
Ein anderer Weg für Bioenergie
Andreas Graf ist bei vielen Punkten optimistisch mit Blick auf einen ambitionierteren Klimaschutz. Gleichzeitig identifiziert er auch Schwachpunkte beim Fit for 55-Paket – so etwa bei der Frage, wie Bioenergie und Wasserstoff genutzt werden. „Wir werden zum Beispiel auch in Zukunft Bioenergie brauchen, um die Treibhausgasneutralität bis 2050 zu erreichen. Und die Nachfrage wird zunehmen, für die stoffliche Nutzung von Biomasse ebenso wie für die energetische.“
Ebenso wie Wasserstoff sei Bioenergie daher mittel- und langfristig ein wertvolles Gut. „Beide sollten schon heute stärker in die Industrie gelenkt werden, da sie dort in Zukunft sinnvoll eingesetzt werden können. Gleichzeitig ist es wichtig, die bioenergetische Nutzung etwa für Strom, Gebäude und Verkehr zu begrenzen.“ In der europäischen Wasserstoffstrategie sieht Andreas Graf aber auch ein großes Potenzial. „Die EU wird hier Vorreiter sein und kann in einer frühen Phase der weltweiten Wasserstoff-Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen – beim Aufbau von Partnerschaften mit anderen Ländern, aber auch bei der Definition von Nachhaltigkeitsstandards.“
Die Auswirkungen des Krieges
Mit dem Ukraine-Krieg sind für den europäischen Klimaschutz aber auch viele neue Unwägbarkeiten auf den Plan getreten. „Gerade Länder, die sehr viel Kohle nutzen, haben Bedenken bei der Stärkung des Emissionshandels. Man sieht auch jetzt schon, dass mehr Kohle verbrannt wird“, sagt Andreas Graf. „Doch er sieht auch die Chance, nach einem Rückschritt noch größere Schritte nach vorne zu machen. „Wir haben mittlerweile ein ausreichendes Verständnis dafür, was wir machen müssen. Und wenn wir jetzt mutig sind und auch wirklich loslegen, wenn wir den Krieg als Ansporn nehmen, bessere, strukturelle Lösungen zu finden, können wir es schaffen.“
Dazu gehört für ihn auch, unabhängig von fossilen Energien zu werden. „Wir erleben jetzt, was das wirklich bedeutet.“ Aber nicht nur mit Blick auf die Energieversorgung betont er den notwendigen Wandel. „Durch den Krieg wird allen nun zum Beispiel auch viel stärker bewusst, wie viel der Agrarproduktion als Futtermittel für Tiere verwendet wird.“ Zudem sieht er, dass die Bürger*innen auf die steigenden Preise reagieren. „Man sieht auch ohne politische Vorgaben, dass solche Anreize dabei helfen, energieeffizienter und bewusster zu leben.“
Andreas Graf hat unter anderem an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn sowie der University of Kansas Politikwissenschaften, Umweltstudien und Germanistik studiert. An der Freien Universität (FU) Berlin erwarb er einen Master in Internationale Beziehungen. Anschließend war er unter anderem für das Ecologic Institut, die Generaldirektion Energie der Europäischen Kommission (Blue Book Trainee) sowie den Deutschen Bundestag tätig. Seit 2017 gehört Andreas Graf zum Team von Agora Energiewende. Als Projektleiter befasst er sich hier mit Europäischer Klimapolitik sowie möglichen Instrumenten für eine treibhausgasneutrale Zukunft.
Weitere Informationen
Mitarbeiterseite von Andreas Graf auf der Website von Agora Energiewende