„Fläche vermittelt kein schützenswertes Bild“
Wer nahe der grünen Wiese lebt, vielleicht noch mit einem Wald oder Acker dahinter, macht sich wahrscheinlich keine Gedanken darüber, dass das, worauf er gerade blickt, Mangelware sein könnte: Fläche.
Gerade in ländlichen Regionen ist die Flächenneuinanspruchnahme besonders hoch, sagt Dr.-Ing. Jens-Martin Gutsche. Der Mitbegründer und Gesellschafter des Planungsbüros Gertz Gutsche Rümenapp – Stadtentwicklung und Mobilität kennt sich aus mit Flächen und ihrer Belegung durch den Verkehr und Siedlungen. Er erstellt Konzepte zur Siedlungsentwicklung und begleitet Projekte der Regional- und Landesplanung. Auch das Thema Flächensparen spielt dabei eine Rolle. Laut Gutsche wird dieses aber vor allem in den mittleren und größeren Kommunen artikuliert, obwohl hier durch die städtischen Dichten in der Regel wenig neue Fläche pro Wohnung oder Arbeitsplatz in Anspruch genommen wird. Zudem hätten diese Städte aus gutem Grund einen landes- oder regionalplanerischen Auftrag, Wohnungen zu schaffen und Arbeitsplätze anzusiedeln. Seltener kommt das Ziel des Flächensparens hingegen in Gemeinden des weiteren Umlandes und des ländlichen Raum zur Sprache, obwohl genau hier das größte Potenzial zum Flächensparen liegt. „Die höchste Flächenneuinanspruchnahme findet in Kommunen statt, in denen relativ viel Platz ist. Hier gibt es zudem kein Gefühl für Flächenmangel wie in großen Städten und die Bodenpreise sind deutlich niedriger als in Wachstums- und Ballungszentren. Gerade im ländlichen Raum können es sich die Menschen oft noch leisten, ein Grundstück zu kaufen und zu bebauen“, sagt Gutsche. Die Innenentwicklung, also die Nutzung bereits erschlossener Flächen innerhalb von Ortschaften etwa durch die Aufstockung bestehender Gebäude oder das Schließen von Baulücken, funktioniere im ländlichen Raum ebenfalls oft deutlich schlechter. „Viele Eigentümer*innen geben ihre Grundstücke nicht auf, auch wenn sie brachliegen. Das ist in Städten anders, hier sind die Preise höher und die Innenentwicklung lohnt sich auch finanziell.“
Eine Allianz für Innenentwicklung
Es gibt auch eher ländliche Kommunen, die sich trotzdem bei der Innenentwicklung engagieren, betont Gutsche. So haben sich vor über zehn Jahren 46 Dörfer aus zehn Gemeinden in den Landkreisen Schweinfurt und Bad Kissingen zur Allianz Oberes Werntal zusammengeschlossen. In einer gemeinsamen Erklärung haben sich die Gemeinden aus dem Nordwesten Bayerns zur Innenentwicklung verpflichtet und ein abgestimmtes Flächenmanagement initiiert. „Dies ist ein sehr anschauliches Beispiel, wie viel Innenentwicklung bewirken kann, wenn sie konsequent angegangen wird. Bei der Evaluation zeigte sich, dass in der Zeit von 2008 bis 2017 eine beeindruckende Menge an Baulücken aktiviert wurden – mehr, als vorher erwartet wurde. Darüber hinaus wurden 1.139 von 3.360 Objekten wieder genutzt, insgesamt wurde vermieden, Flächen im Umfang von 50 Hektar neu zu belegen.“
Mit Kontingenten und Handel
Was aber tun, wenn die Kommunen nicht selbst aktiv werden? Wie kann man sie dann davon abhalten, immer mehr Flächen mit Häusern und Infrastruktur zu belegen? „Man muss die Außenentwicklung begrenzen oder sie zumindest schwieriger machen“, sagt Gutsche. „Eine punktuelle Möglichkeit sind Verbote – so etwa über die Ausweisung von Naturschutzgebieten.“ Flächendeckend werde es aber eher um eine Kontingentierung der zusätzlichen Flächenausweisungen im Außenbereich gehen. Einzelne Regionalplanungen machen diesen Ansatz bereits vor. Entsprechende Überlegungen gibt es auch für eine deutschlandweite Kontingentierung. Eine mögliche Umsetzung ist auch der so genannte Flächenzertifikatehandel, der bereits in einem bundesweiten Modellversuch erprobt wurde. „Bei einem solchen Handel brauchen Städte und Gemeinden Zertifikate, wenn sie Außenentwicklung betreiben wollen. Auf dem Markt gibt es dann insgesamt nur so viele Zertifikate wie nötig sind, um den täglichen Flächenverbrauch hierzulande auf unter 30 Hektar zu bringen. Bei der Innenentwicklung werden keine Zertifikate fällig, aber wer Bauland im Außenbereich neu ausweisen will, muss bei jedem Hektar eines abgeben.“ Je nach Ausgestaltung des Handels könnten Kommunen, die nicht weiter wachsen, ihre Zertifikate dann an andere Kommunen verkaufen. Erhalte jede Gemeinde ein Kontingent, lohne sich auch die Innenentwicklung wieder – dies gelte für feste Kontingente genauso wie für einen Zertifikatehandel. In beiden Fällen brauche es klare Regeln – so etwa mit Blick auf die Frage, wann in den Planungsverfahren die Zertifikate vorlegt werden müssen und wie mit Kontingentüberziehungen umgegangen wird.
Wie viel Fläche in deutschen Kommunen pro Jahr für Siedlungs- und Verkehrsflächen neu in Anspruch genommen wird, zeigt ein von Gutsche für das Umweltbundesamt entwickelter Flächenrechner. „Mit diesem kann man außerdem sehen, was das Unter-30-Hektar-Ziel der Bundesregierung für die einzelnen Kommunen und Regionen konkret bedeutet.“
Fläche erzeugt kein Bild im Kopf
Bei seiner Arbeit stellt Jens-Martin Gutsche immer wieder fest, dass Flächensparen ein sehr untergeordnetes Thema ist – im Gegensatz etwa zum Natur- oder Klimaschutz. „Dabei hängt damit natürlich viel zusammen. Auch der Boden ist eine endliche Ressource, die sich kaum regeneriert, wenn er einmal zerstört wurde. Wir brauchen ihn für die Speicherung von Treibhausgasen, den Anbau von Lebensmitteln, den Schutz von Biodiversität und vieles mehr.“ Flächensparen diene aber nicht nur dem Schutz und Erhalt von Böden. „Es zahlt auf viele weitere Ziele ein, so etwa, Zersiedelung zu vermeiden, die Kosten für die Infrastrukturen bezahlbar zu halten und Verkehr zu vermeiden.“
Das mangelnde Bewusstsein führt er auch darauf zurück, dass Fläche „kein Bild im Kopf erzeugt.“ Der Begriff an sich sei schwer vermittelbar. Im Vergleich zu anderen Schutzgütern entstehe kein schützenswertes Bild. „Beim Naturschutz haben wir eine Idee, worum es geht, sehen Bäume und Tiere vor uns. Ähnliches gilt für den Klimaschutz, da sehen wir schmelzende Pole und Eisbären auf Schollen. Bei der Fläche passiert so etwas nicht und man muss viel erklären, etwa, wenn es um die Wirkungen der Flächeninanspruchnahme und den Unterschied zwischen Versiegelung und Flächenverbrauch geht.“ Einen gewissen Bewusstseinswandel müsse es aber gleichwohl in den vergangenen Jahrzehnten gegeben haben, sagt Gutsche mit Blick auf den Rückgang der Flächenneuinanspruchnahme seit Ende der 1990er Jahre, als sie noch bei 129 Hektar pro Tag lag. Heute werden täglich 55 Hektar neu belegt. „Beeindruckend ist auch die Kontinuität des Rückgangs. Das ist aber natürlich kein Grund, beim Flächensparen nachzulassen. Zumal der Rückgang in den vergangenen Jahren eher stagniert ist.“
Eine positive Richtung
Wenn Jens-Martin Gutsche über Innenentwicklung spricht, betont er meist ihre Vorteile. Er sagt aber auch: Eine falsche Innenentwicklung kann auch ungewollte soziale Nebeneffekte mit sich bringen, etwa wenn sie sich nur in hochpreisige Wohnungen in zentraler Lage übersetzt, durch die ganze Stadtviertel aufgewertet und Mieter*innen verdrängt werden. „Begleitend ist deswegen eine soziale Wohnraumförderung wichtig“, sagt er. „Ich wünsche mir ein positives Bild der Innenentwicklung, die in eine gute Richtung führt und negative Effekte wie Verdrängung oder eine zu hohe Verdichtung abfedert oder sogar vermeidet. Wir brauchen eine clevere Innenentwicklung, die eine Diskussion darüber, wie viel Wohnfläche jeder Mensch eigentlich besetzen sollte, nicht ausspart.“
Dr.-Ing. Jens-Martin Gutsche hat an der Technischen Universität (TU) Berlin Planung und Betrieb im Verkehrswesen studiert, er promovierte an der Technischen Universität Hamburg (TUHH) zur Frage, welche Effekte das kommunale Finanzsystem auf den Verkehr hat. Mit zwei TUHH-Kollegen gründete er 2003 das Büro Gertz Gutsche Rümenapp – Stadtentwicklung und Mobilität. Das Unternehmen unterstützt Kommunen und Regionen bei der Gemeinde- und Regionalentwicklung, so etwa in den Bereichen Verkehr und Mobilität, Siedlungsentwicklung und Infrastruktur. Sein Mit-Gesellschafter Prof. Dr.-Ing. Carsten Gertz hat heute den Lehrstuhl für Verkehrsplanung an der Technischen TUHH inne. Jens-Martin Gutsche hat für das Umweltbundesamt einen Flächenrechner entwickelt. Dieser visualisiert öffentlich zugänglich die Flächenneuinanspruchnahme und verdeutlicht, was das Ziel der Bundesregierung, diese auf unter 30 Hektar täglich zu begrenzen, für einzelne Kommunen und Regionen konkret bedeutet.
Weitere Informationen
Website „Gertz Gutsche Rümenapp – Stadtentwicklung und Mobilität“