Im Porträt: Jakob Graichen
Fast zwei Jahrzehnte lang arbeitet Jakob Graichen bereits als Senior-Researcher für das Öko-Institut. Das mittlere von drei Kindern wuchs in Bonn auf und kommt aus einer Familie, in der sich alle mit Umweltpolitik befassen. Die Eltern waren in der Umweltbewegung aktiv, Graichens Schwester arbeitet ebenfalls für das Öko-Institut und der Bruder war bis vor knapp einem Jahr Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium.
Auf die Kuriosität angesprochen, antwortet Graichen im Gespräch mit Tagesspiegel Background lapidar: „So ist das halt.“ In anderen Familien würden alle Kinder Ärzte oder Anwälte; statistisch gesehen müssten in irgendeiner Familie auch mal alle beim Klimaschutz landen. Graichen engagierte sich schon in der Jugend beim BUND und entschied sich zuerst für ein Studium des Umweltingenieurwesens, was er jedoch nach einem Jahr wieder schmiss und stattdessen Physik studierte und mit Diplom abschloss. Er habe „lieber tiefer graben“ statt „anwenden“ wollen, sagt er.
Graichen entschied sich gegen eine Promotion und fing kurze Zeit nach Studienende an, beim Öko-Institut zu arbeiten. Bis auf ein mehrjähriges Intermezzo bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Mexiko blieb er dem Öko-Institut treu. Seine Expertise, die von Emissionshandelssystemen über Klimaschutzverordnungen und Emissionen im Luft- und Seeverkehr reicht, baute er sich sukzessive auf. Zu Beginn seiner Karriere, erklärt er, sei es erst einmal darum gegangen, wie sich Treibhausgasemissionen ermitteln, berechnen, prüfen und dokumentieren ließen, um daraus Handlungsmaßnahmen zur Reduktion von Emissionen abzuleiten. Auch mit dem Europäischen Emissionshandel, der 2005 eingeführt wurde, habe er sich von Anfang an befasst.
Gebäude- und Verkehrssektor hinken hinterher
Graichen befürwortet den zweiten Emissionshandel (ETS 2), der in Zukunft auch die Emissionen im Gebäude- und Verkehrssektor umfassen wird. Denn der Fortschritt zur CO2-Reduktion stagniert in diesen Bereichen ganz besonders; Deutschland sei in dieser Hinsicht „leider kein rühmliches Beispiel“. Auch wenn sich in Sachen Klimaschutz bereits viel getan hätte, müsse noch viel mehr getan werden, um die Klimaschutzziele 2030 zu erreichen. Namentlich im Gebäudesektor brauche es mehr Finanzierungs- und Förderprogramme, um beispielsweise Grundsanierungen von alten Gebäuden voranzubringen. Gleiches gälte für den Straßenverkehr, es gäbe keine guten Argumente gegen ein Tempolimit.
Graichen hält es überdies nicht für realistisch, dass die Reduktion der europäischen Bruttoemissionen von 90 bis 95 Prozent bis 2040 erreicht werden kann. Eine mögliche Lösung sieht er allerdings in negativen Emissionen, also in der Entfernung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre mit anschließender Speicherung. Wie schnell die Dinge vorangehen, entscheide aber letztendlich die Politik. Mit Sorge blickt er daher auf die anstehenden Europaparlamentswahlen, die Gegner eines aktiven Klimaschutzes stärken könnten.
So oder so wird das politisch unabhängige Öko-Institut weiterhin Ministerien und Entscheidungsträger*innen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Sachen Klimaschutz beraten. Graichen sieht sich dort vorerst gut aufgehoben und hat, anders als sein Bruder, keine Ambitionen, eine politische Karriere anzustreben. „Mein Ziel war es nie, in der ersten Reihe zu stehen“, sagt er. Sein Ding ist es eben eher, tiefer zu graben, um Erkenntnisse und Ideen ans Licht zu bringen.
Wer rettet das Klima – die Politik oder die/der Einzelne?
Ohne die richtigen Rahmenbedingungen werden wir das Klima nicht retten können, die Politik ist unabdingbar. Individuelles Handeln unterstützt und kann Regulierungslücken füllen.
Auf welchen Flug würden Sie nie verzichten?
Mit Familie in Nord- und Südamerika können und wollen wir nicht komplett auf Flüge verzichten.
Wer in der Energie- und Klimawelt hat Sie beeindruckt?
In den 20 Jahren, die ich zu dem Thema arbeite, haben die Mitarbeiter*innen der DG Klima der EU-Kommission durchgängig für mehr Ambition im Klimaschutz gesorgt. Sie haben dabei geschickt ihre Möglichkeiten genutzt, ein großer Teil der schon erreichten Minderung und der Politiken und Maßnahmen für die Zukunft geht auf ihr Konto.
Welche Idee gibt der Energiewende neuen Schwung?
Dynamische Stromtarife, die von der aktuellen lokalen Situation im Stromnetz abhängen. Dies würde sowohl auf der Nachfrage- als auch der Angebotsseite die richtigen Anreize setzen. Auch der Widerstand gegen Windräder würde vermutlich abnehmen, wenn sie direkt vor Ort zu günstigeren Strompreisen führen würden.
Das Porträt erschien zuerst im Tagesspiegel Background Energie & Klima am 4. April 2024 und wurde von Boris Messing geschrieben.