Keine Nachhaltigkeitsdebatte ohne Chemikalien
Clara Löw vom Öko-Institut, Quelle: Öko-Institut
Ich tippe typische Verwendungen von „Persistent Organic Pollutants“ (POPs), also nicht-abbaubaren organischen Schadstoffen, in eine Excel-Tabelle und frage mich, wie ich darin ein Muster erkennen soll. Ich habe die Aufgabe, deren Anwendungsmuster zu analysieren, aber noch keine Idee, wie ich da hinkomme. Ich merke, wie die Tabelle mich in Gedanken einengt und fange an, Begriffe auf ein leeres Blatt zu schreiben: Pestizide, Flammschutzmittel, Weichmacher in Kunststoffen, Textilen und Motorenölen sowie noch viele mehr.
Ich kann nicht mehr sagen, welcher Begriff es war – vielleicht war es auch die Kombination – die in meinem Kopf eine Grafik aus meiner Masterarbeitsliteratur von vor eineinhalb Jahren aufleuchten lässt. Sie zeigte Emissionen pro Jahr aus unterschiedlichen Produkten, die aufgesplittet nach Gruppen organischer Chemikalien dargestellt waren, Ether, aromatischen Verbindungen, cyclischen nicht-aromatische Verbindungen und so weiter.
„Ein kleines bisschen Chemie“
Im Homeoffice verwende ich den Ordner mit meiner Masterarbeitsliteratur zur Erhöhung meines Bildschirms – das war der dickste im Regal. Was für ein Zufall. Ich finde das Paper! Und mit ihm kommt ein großer Schub Motivation aus dem Ordner:
Denn ein verkannter Aspekt von Nachhaltigkeitsdebatten sind oft Chemikalien in Produkten und alltäglichen Materialien und deren Freisetzung während der Herstellung und Nutzung, während des Transports, in der Abfallphase und in der Verbrennung.
Wo soll denn zwischen biologischem Gemüseanbau, Forderung nach weniger Plastik und mehr Klimaschutz noch Platz für „ein kleines bisschen Chemie“ sein? Dazu kann ich genau hier, mit meiner Aufgabe Anwendungsmuster zu analysieren, etwas beitragen.
Die „wesentliche Reduktion der Freisetzung von Chemikalien in Luft, Wasser und Boden“ ist ein Teilziel der Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen (SDG 12.4), „um negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu minimieren“. Dies ist vor allem für diejenigen Chemikalien wichtig, die besonders besorgniserregende Eigenschaften haben.
Flammschutzmittel in der Atmosphäre
Organische Flammschutzmittel, die in vielen Alltagsprodukten (Sofa, Elektronik, Matratzen, …) sind, weisen eine oder mehrere besorgniserregende Eigenschaften auf. Ihr meist flüchtiger Charakter führt zu einer Verbreitung der Stoffe in der Atmosphäre. Die Freisetzung in die Umgebungsluft wird durch die substanzspezifische Volatilität beschrieben. Das ist die Fähigkeit einer Substanz zu verdampfen. Es gibt einerseits natürlich vorkommende Volatile organische Verbindungen (VOC), wie beispielsweise der Stoff, den Nadelhölzer abgeben, und der dazu führt, dass es „nach Tanne“ riecht. Andererseits gibt es auch viele vom Menschen verursachte (anthropogene) Luftschadstoffe die der Luft beigemengt sind.
VOC sind an einer Reihe von Prozessen in der Atmosphäre beteiligt:
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Sie können beispielsweise „sekundären Feinstaub“ durch Oxidationsprozesse in der Luft bilden.
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Gebunden an die Oberfläche von anderen Feinstaubpartikeln können sie über die Luft zum Teil sehr weit, das heißt bis zur Arktis, transportiert werden.
Mit diesen beiden Verhaltensmustern beeinflussen organische Luftschadstoffe…
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…Prozesse des Klimawandels, denn sekundäre Aerosolpartikel können Wolken bilden.
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…in der Ozonschicht durch die Bildung von reaktiven Sauerstoffspezies.
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…die Luftqualität in Städten negativ – mit negativen Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Luftschadstoffe tragen zu erhöhtem Aerosolgehalt der Atmosphäre bei.
Sie sind also an Prozessen bei drei von neun „planetaren Grenzen“ nach Steffen et al. (2015) beteiligt. Außerdem: Angelagert auf der Oberfläche von Feinstaubpartikeln können gesundheitsgefährdende organische Chemikalien eingeatmet werden mit direkten Folgen für den betroffenen Menschen.
Besonders besorgniserregend sind vom Menschen verursachte (semi-)volatile organische Substanzen insbesondere dann, wenn sie halogeniert, das bedeutet Fluor, Chlor oder Brom enthalten, sind. Man kürzt sie als X-(S)VOC ab. Dass solche Stoffe alle Kriterien für einen nicht-abbaubaren organischen Schadstoff (POP) erfüllen, ist sehr wahrscheinlich: Sie sind also voraussichtlich persistent, bioakkumulierend, toxisch und können sich weit in der Umwelt verbreiten ohne abgebaut zu werden.
Was die Politik zusätzlich tun könnte
Bisherige Strategien in der Chemikalien-Regulatorik sind:
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Chlor-Fluor-Verbindungen reduzieren zum Schutz von stratosphärischem Ozon insbesondere über das Kyoto-Protokoll
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Wechsel von organischen Lösungsmitteln zur Verwendung wässriger Systeme zur Reduktion von troposphärischem Ozon.
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Ausstieg aus der Verwendung von toxischen Substanzen.
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Neuere Erkenntnisse legen nahe, sich auch hiermit zu beschäftigen:
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Volatile chemische Produkte (aus Indoor-Quellen) tragen wesentlich zur Bildung von sekundärem Feinstaub bei.
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Neben Ozon und toxischen Substanzen muss vor allem auch PM2,5 stärker in das Blickfeld gerückt werden. PM2,5 sind Schwebstaubteilchen, deren Durchmesser kleiner ist als 2,5 Mikrometer. Ein Mikrometer entspricht einem Tausendstel Millimeter. Diese Teilchen gelangen besonders tief in die Lunge. Hierfür sollten alle relevanten Vorläufersubstanzen und -klassen identifiziert und reguliert werden.
Flammschutzmittel sind unterschätzte Luftschadstoffe
Insgesamt wird in der Öffentlichkeit beim Thema Nachhaltigkeit wenig an Chemikalien gedacht. Dabei stehen zum Beispiel die Flammschutzmittel stellvertretend für die große Gruppe der von Menschen gemachten Luftschadstoffen. Dass diese Substanzgruppe einen größeren Anteil an den organischen Luftschadstoffen ausmacht als vermutet, fanden unter anderem McDonald et al. (2018) heraus: In vielen Produkten unseres alltäglichen Lebens sind solche Chemikalien zugesetzt, um gewünschte Produkteigenschaften, wie zum Beispiel die flammhemmende Wirkung beizusetzen. McDonald et al. nennen sie die „volatilen, chemischen Produkte“.
Die vor mir liegende Aufgabe, die Anwendungsmuster von POPs zu analysieren, trägt zum Bekanntheitsgrad eben dieser Verbindungen und ihrer oben beschriebenen Umweltwirkungen bei. Sie haben das Potenzial, organische Luftschadstoffe und ihre typischen Anwendungen als anthropogene Chemikalien in den Fokus zu setzen.
Und plötzlich habe ich eine Idee, wie zwischen den chemischen Strukturen, den Lebenszyklusabschnitten mit Emissionsrisiko, den Funktionen der Stoffe und den typischen Materialien, in denen sie Anwendung finden, ein Muster zu suchen ist. Es wird in dennoch in einer großen Excel-Tabelle enden.
Clara Löw ist Expertin für Schadstoffbewertung und Substanzevaluation, Kreislaufwirtschaft sowie Kunststoffe und arbeitet im Bereich „Produkte & Stoffströme“ am Standort Freiburg. Mit ihrer Masterarbeit zu „Organischen Flammschutzmitteln in der Umgebungsluft von Frankfurt a.M.“ und der Begründung, wie wichtig anthropogene Chemikalien für ökologische Fragestellungen sind, hat Clara Löw 2020 den Nachhaltigkeitspreis für Abschlussarbeiten der Universität Frankfurt gewonnen.