„Oft scheitern Projekte an falschen Erwartungen“
Menschen aus Wissenschaft und Praxis zusammenbringen, um gemeinsam Nachhaltigkeitsprobleme zu lösen – gelingt das in Nordeuropa genauso wie in Südamerika? Ja und nein, sagt Prof. Dr. Christian Erik Pohl von der ETH Zürich: „Es gibt durchaus generelle Prinzipien der transdisziplinären Arbeit. Dass man sich auf Augenhöhe begegnet, Erwartungen früh adressiert, so etwas funktioniert kulturübergreifend.“ Gleichzeitig aber unterscheidet sich das transdisziplinäre Forschen von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent mitunter stark. Daher sind auch seine Ergebnisse nicht immer generalisier- und übertragbar.
Gründe hierfür sind unterschiedliche Kontexte, unterschiedliche gesellschaftliche Strukturen und politische Rahmenbedingungen. „Hierzu haben meine Kolleginnen Bianca Vienni-Baptista und Julie Thompson Klein ausführlich gearbeitet. Wenn man etwa auf die transdisziplinäre Forschung in Brasilien blickt, geht es viel darum, die Stimme der indigenen Bevölkerung zu stärken“, erklärt Pohl. „In Südafrika wiederum liegt ein großer Fokus auf jenen Menschen, die im informellen Sektor arbeiten und auf den ersten Blick keiner eindeutigen Stakeholdergruppe zugeordnet werden können.“ Besonders eingeschränkt sei das transdisziplinäre Forschen etwa in Russland. „Dieses wurde von der Akademie der Wissenschaften als Pseudowissenschaft verpönt. Der Grund ist klar: Es kann kritisches Denken und Widerspruch erzeugen.“
Toolboxen und Handbücher: die Systematisierung
Professor Pohl fand das transdisziplinäre Arbeiten von Anfang an einen „tollen Ansatz“. Doch zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere in den 1990er Jahren fehlte ihm eine Systematisierung. „Es gab keine Orte, an denen systematisch gelernt wird. Keine Übersicht über Methoden und Formate. Keine Einigkeit über Funktionsweisen und zentrale Schritte.“
Heute ist die transdisziplinäre Forschung deutlich weiter. „Natürlich gibt es nach wie vor unterschiedliche Verständnisse und Herangehensweisen, aber in der europäischen Forschungscommunity gibt es durchaus Einigkeit mit Blick auf die Strukturierung des Arbeitens oder auf wichtige Anforderungen wie etwa die Begegnung auf Augenhöhe. Es gibt eine Reihe von Toolboxen und Handbüchern, die systematisches Wissen vermitteln.“ Toolboxen und Handbücher, zu denen auch der Schweizer Experte wesentlich beigetragen hat. So hat er unter anderem mit einer Kollegin die Principles for Designing Transdisciplinary Research verfasst und ist mit anderen für die td-net toolbox for co-producing knowledge verantwortlich. Auch auf internationaler Ebene setze inzwischen ein Standardisierungsprozess ein, sagt er
Ein ehrlicher, gemeinsamer Prozess
Einer der zentralen Erfolgsfaktoren für transdisziplinäre Projekte ist nach Prof. Dr. Christian Pohl eine ehrliche Verständigung über Erwartungen und Annahmen von Beginn an. „Dazu gehört etwa die Frage: Was kann man mit dem Projekt überhaupt erreichen? Hier muss klar sein, welche Erwartungen es gibt – und ob es realistisch ist, dass diese erfüllt werden. Oft scheitern Projekte daran, dass die Menschen mit falschen Erwartungen hineingehen und dann enttäuscht werden.“ Wichtig sei zudem ein gemeinsamer Prozess der Identifizierung und Strukturierung des zu bearbeitenden Problems. „Die Teilnehmenden müssen ein eigenes, intrinsisches Interesse an dem Projekt haben und sich schon an der Festlegung der Forschungsfrage beteiligen. Bei den Wissenschaftler*innen wiederum geht es nicht ohne Neugier und dem festen Willen, die eigene Forschung weiterzubringen.“ Oft wiederholt, aber deswegen nicht weniger wichtig ist zudem die Arbeit auf Augenhöhe. „Das beginnt schon in der Projektleitung: In den Steuerungsausschüssen müssen alle beteiligten Parteien gleichermaßen vertreten sein. Auch an die Forschenden stellt das Ansprüche. Hier braucht es eine gewisse Bescheidenheit, die es erlaubt, vorurteilsfrei zuzuhören und zuzuschauen, andere ernst zu nehmen und Widerspruch zuzulassen.“ Auf die Frage, welches transdisziplinäre Format das erfolgversprechendste ist, antwortet Professor Pohl schnell. Reallabore könnten eine ökologische und gesellschaftliche Wirkung erzielen. „Man geht raus und macht, arbeitet gemeinsam an Lösungen.“ Wichtig sei zudem immer, dass Menschen etwas aus dem Prozess mitnehmen. „Das Produkt selbst ist dabei vielleicht gar nicht so wichtig. Die Lernprozesse und auch die Netzwerke, die sich bilden, sind hingegen auf jeden Fall extrem wertvoll.“
Transdisziplinarität stärken
Überhaupt: Vernetzung. Ein Wort, das man ständig hört und liest, wenn man sich mit dem transdisziplinären Forschen beschäftigt. Ein wichtiges Beispiel für die Vernetzung ist die Global Alliance for Inter- and Transdisciplinarity (ITD Alliance), zu deren Führungsgremium Pohl bereits gehörte. Sie setzt sich für die Stärkung des inter- und transdisziplinären Arbeitens in Theorie und Praxis ein. „Dabei geht es auch um Wissenschaftspolitik. Um die Frage: Warum braucht es uns transdisziplinären Forscher*innen? Aber auch ganz praktisch: Wie können wir uns gegenseitig stärken? Das gelingt etwa, wenn wir als Mentor*innen für jüngere Forscher*innen tätig werden.“
Mit Blick auf die Wissenschaftspolitik fehlt dem Forscher aus Zürich eine stärkere Förderung der transdisziplinären Projekte. „Es gibt hier erste und mutmachende Projekte – so etwa mit Blick auf die Förderung von Reallaboren in Baden-Württemberg. In der Schweiz sind wir leider noch nicht so weit.“ Ein Problem sieht er hier vor allem auch bei der Einbeziehung von Stakeholder*innen. „Es wird immer vorausgesetzt, dass die sich sowieso kostenlos beteiligen. Dabei braucht es dringend Fördertöpfe, um sie genau dabei zu unterstützen. Niemand sollte das dauerhaft ehrenamtlich tun.“
Ein Reallabor im Aargau
Professor Pohl befasst sich aber bei Weitem nicht nur mit theoretischen Grundlagen und Anforderungen. Sondern auch mit der praktischen Umsetzung. In seinem Seminar „Umweltproblemlösen“ an der ETH Zürich geht er mit seinen Studierenden ebenfalls „ins Feld“, genauer gesagt in den Jurapark Aargau. In dieser Region zwischen Zürich und Basel leben etwa 55.000 Menschen. 32 Gemeinden haben sich als Verein organisiert, der eine nachhaltige Gemeindeentwicklung ermöglichen will, um unter anderem Herausforderungen wie dem Klimawandel zu begegnen. „In der ersten Runde des Seminars ging es darum, die wissenschaftlichen Grundlagen zu legen und hierfür unterschiedliche Fragen zu beantworten. Etwa: Welche Bedeutung der Jurapark für die Region hat oder wie sich der Klimawandel hier auswirkt.“ In der Fortsetzung des Seminars wurden – natürlich gemeinsam mit Akteur*innen aus der Landwirtschaft oder der Verwaltung – konkrete Lösungen erarbeitet, um die Nachhaltigkeit zu erhöhen. „Der Jurapark wurde Anfang 2023 zum Reallabor. Hier sollen nun gemeinsam mit Forscher*innen der ETH Zürich Lösungsansätze ausprobiert werden, die sich etwa den Infrastrukturen widmen oder das Verhalten der Bewohner*innen adressieren.“ Bei diesen Realexperimenten versteht sich natürlich von selbst: Die generellen Prinzipien der transdisziplinären Arbeit, sie werden auch im Norden der Schweiz gelten.
Prof. Dr. Christian Erik Pohl hat Umweltwissenschaften studiert und kam früh zur inter- und transdisziplinären Forschung, deren Systematisierung er sich seit Ende der 1990er Jahre widmet. Daraus entstanden unter anderem die Principles for Designing Transdisciplinary Research, die td-net toolbox for co-producing knowledge oder auch das Handbook of Transdisciplinary Research. Professor Pohl ist seit 2013 als Senior Scientist sowie als Co-Direktor des USYS TdLab sowie seit 2022 als Titularprofessor an der ETH Zürich tätig. Er ist darüber hinaus Mitglied im Partner*innenkreis der td Academy.
Weitere Informationen
Publikation „Principles for Designing Transdisciplinary Research”
Website “Methods and tools for co-producing knowledge”
Handbook of Transdisciplinary Research
Maßnahmenbroschüre “Nachhaltige Gemeindeentwicklung und Regionalität im Jurapark Aargau”