Reallabore – Forschen ohne Kittel
Was sind Reallabore und wie unterscheiden sie sich von anderen partizipativen Forschungsmethoden?
Reallabore zeichnen sich dadurch aus, dass verschiedene Akteursgruppen über die Wissenschaft hinaus zusammenarbeiten. Praxisakteure können kommunale Vertreter*innen sein, Verwaltungen, Unternehmensvertreter*innen, aber genauso auch zivilgesellschaftliche Akteure, wie Initiativen oder engagierte Bürger*innen.
Das Wichtige bei einem Reallabor ist dessen Struktur. Also wir sprechen von dem Co-Design, der Co-Produktion und der Co-Evaluation. „Co“ deutet schon mal an, es gibt die Zusammenarbeit von verschiedenen Akteuren und im Co-Design wird gemeinsam überlegt und geplant, was und wie man etwas umsetzen möchte. In der Co-Produktion wird es dann alles gemeinsam mit den verschiedenen Akteuren umgesetzt. Und in der Co-Evaluation bewerten alle gemeinsam den Prozess und die Wirkungen der Pilotierung, also der Umsetzungsprojekte. Das sind die verschiedenen Phasen.
Es ist ein offenes Experimentieren: das ist Forschung ohne Kittel und kontrollierte Laborumgebung. Der Begriff Reallabor gibt das auch bereits vor, es ist ein Kunstwort zusammengesetzt aus Realität und Labor. Labor zeichnet einerseits diese naturwissenschaftliche Perspektive aus. Zum anderen gibt es die Lebensrealität. Wir schauen, was gibt es für gesellschaftliche Innovationen, Entwicklungen, Transformationen, die wir da anstoßen und begleiten können. Und dann verknüpfen wir beide Welten miteinander.
Wo kommt das Wort her?
Tatsächlich ist es nicht ganz klar. Er ist so in den 2010er Jahren entstanden, aus diesen beiden Perspektiven Labor und Realität. Wie können wir die Idee zusammenbringen, diese neue Forschungsrichtung zu beschreiben? Andere Begriffe, die für das Format teilweise genutzt werden, sind zum Beispiel Realexperiment oder Living Lab. Der Begriff Reallabor hat sich aber zunehmend in der Forschungslandschaft etabliert.
Es gibt Reallabore, die zum Ziel haben, gemeinwohlorientiert Transformation anzustoßen und Nachhaltigkeitswirkungen zu generieren, sei es ökologisch, sozial wie auch ökonomisch. Projekte dieser Art fördert unter anderem das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Daneben gibt es auch Reallabor-Projekte, die durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gefördert sind. Diese Forschung ist stärker in Richtung digitaler und rechtlicher Innovationen orientiert und spricht damit häufig wirtschaftliche Akteure wie zum Beispiel Tech-Start-Ups an. Im aktuell laufenden Konsultationsprozess zum Reallaborgesetz des BMWK wird unter anderem auch versucht, Aspekte aus beiden Forschungslinien zukünftig stärker zusammen zu denken.
Welche Vorteile bieten Reallabore im Vergleich zu anderen Formaten der transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung?
Ein Alleinstellungsmerkmal von Reallaboren ist, dass die Praxisakteure eben nicht nur in der Planung mit einbezogen werden, sondern auch in der sogenannten Co-Produktion. Das heißt, sie dürfen als gleichberechtige Partner in der Umsetzung von Dienstleistungen, von Projekten im Allgemeinen mitwirken. Es erfordert einerseits ein sehr hohes Engagement, weil man sich regelmäßig und über einen längeren Zeitraum einbringen muss. Gerade für zivilgesellschaftliche Akteure, die das häufig ehrenamtlich machen, ist es herausfordernd. Andererseits bewirkt es aber auch eine große Identifikation mit der Pilotierung. Dadurch können solche Ideen besser verstetigt werden und bleiben der Region über den Projektzeitraum erhalten. Die öffentlich geförderten Reallabore sind oft auf nur drei bis maximal fünf Jahre ausgelegt und dann ist das Projektteam wieder verschwunden. Auch eine Evaluation über diese Zeitspanne hinaus ist leider nur sehr selten möglich, etwa durch eine Projektverlängerung. Und dann ist es schön, wenn es durch engagierte Menschen, sei es die kommunale Verwaltung oder Bürger*innen, vor Ort weitergeht.
Ist die Beteiligung durch die Zivilgesellschaft immer ehrenamtlich oder gibt es da auch Aufwandspauschalen?
Die Idee des Reallabors ist tatsächlich zunächst ehrenamtliches Engagement zu fördern und zu unterstützen. Im Projekt WohnMobil, wo wir Wohnungsgemeinschaften begleitet haben, haben sich die Bewohner*innen im Sinne einer ökonomischen Tragfähigkeit aber auch überlegt, wie ein Teil der organisatorischen Arbeit mittelfristig vergütet werden kann. Ein gewisser Prozentsatz des Projektbudgets fließt in die Organisation, aber das kann natürlich keine Stelle in der Kommune oder auch in einem Projektteam ersetzen.
Sind das in der Regel regional begrenzte Projekte oder kann man das auch im großen Maßstab anwenden?
Das ist eine spannende Frage. Ganz lange waren die Reallabore sehr lokal gedacht. Es wurden beispielsweise Wohngruppen in Kiezen begleitet. Die Projekte bezogen sich maximal auf Stadtgröße. Oft lag zumindest im Bereich Mobilität der Fokus auf dem städtischen Raum. Seit ein paar Jahren werden auch zunehmend andere Räume bespielt. Ein Ergebnis erfolgreicher Reallabore im urbanen Kontext. Also gibt es jetzt auch Projekte für die ländliche Mobilität. Zuletzt wurde auch der räumliche Fokus in den Ausschreibungen für neue Projekte vergrößert. Es muss sich zeigen, welche Herausforderungen es auf der regionalen Ebene geben wird. Sicherlich sind es andere Akteure. Da stellen sich neue Fragestellungen, gerade auf der Ebene interkommunaler Zusammenarbeit.
Dr. Manuela Weber, Senior Researcher im Bereich Ressourcen & Mobilität beim Öko-Institut
Wie lang dauert ein Reallabor?
Die übliche Laufzeit für solche öffentlich geförderte Projekte beträgt drei Jahre, was ziemlich sportlich ist, wenn man überlegt, dass ein Projekt sehr offen startet und viele verschiedene Akteure und Sichtweisen beteiligt sind. Zu Beginn gibt es eine Forschungsfrage, vielleicht ein grobes Thema wie nachhaltige Mobilität im ländlichen Raum. Anschließend wird mit den unterschiedlichen Akteuren erst ein konkretes Projekt geformt, dann wird das Projekt umgesetzt und soll innerhalb der Projektlaufzeit auch noch hinsichtlich der Prozesse und Wirkungen bewertet werden. Bei manchen Projekten gibt es eine Anschlussfinanzierung, das ist wunderbar für die Verstetigung des Prozesses leider aber noch sehr selten. Aber auch ein Scheitern des Projekts, beispielsweise weil zu wenig Interesse seitens der lokalen Akteure oder Bürger*innen vorhanden ist, muss mitgedacht werden.
Kannst du uns von einem aktuellen Projekt berichten?
In unserem aktuellen Projekt „Zukunft im ländlichen Raum gemeinsam gestalten“ (ZUGG) sollen in Wittenberge und Perleberg in der Brandenburger Region Prignitz einerseits die nachhaltige Mobilität und zum anderen die Innenstadtbelebung neugestaltet werden. Da arbeiten wir mit dem lokalen kommunalen Akteur Technologie- und Gewerbezentrum Prignitz zusammen. Die Idee ist, dass wir gemeinsam mit Bürger*innen diese beiden Themenfelder bespielen. Die Projekte, die hier umgesetzt werden, sollen von den Bürger*innen unterstützt werden. So wurde zum Beispiel entschieden, dass wir unter anderem Lastenrad-Sharing in Wittenberge umsetzen und auf dem Bismarckplatz Sitzmöbel aufstellen. In Perleberg gibt es das Thema Innenstadtbelebung. Dort werden Flohmärkte an verschiedenen Orten der Innenstadt bürgerschaftlich organisiert, die normalerweise nicht zugänglich sind.
Die Flohmärkte finden bereits seit Ende 2022 statt und werden sehr gut von Verkäufer*innen und Besucher*innen angenommen. Diese werden beständig in Richtung Nachhaltigkeit weiterentwickelt. Das ist das besondere an transdisziplinärer Forschung: Auch während der Projekte hinterfragt man deren Ablauf und schaut, was verändert oder verbessert werden kann.
Wie werden Reallabore konzipiert und welche Aspekte werden bei ihrer Planung und Umsetzung berücksichtigt?
Besonders wichtig ist, dass man bei der Planung schon viele relevante Akteure zumindest an Bord hat und sich nicht als wissenschaftliche Instanz darüber stellt. Wir wollen alle gemeinsam etwas umsetzen und Wissen für die Wissenschaft aber vor allem auch die Praxis generieren. Bereits in der Planung sind dann Leitfragen: Was sind die Themen, die die kommunale Verwaltung interessiert und die Bürger*innen vor Ort? Wie schaffen wir es, die Zivilgesellschaft einzubinden?
Ist die kommunale Verwaltung immer ein Akteur oder eine Beteiligte in Reallaboren?
Sie ist häufig ein Akteur. Ich glaube, die Frage ist immer, wann ist es notwendig, dass eine kommunale Verwaltung wirklich als eigener Akteur beteiligt sein muss. Wenn eine Stadtgesellschaft als Gesamtes betrachtet wird und vielleicht auch rechtliche Aspekte geklärt werden müssen, ist es hilfreich beziehungsweise sogar zwingend erforderlich. Dürfen wir auf diesem Platz überhaupt Stadtmöbel aufstellen? Was gilt es baurechtlich zu berücksichtigen? Und ansonsten gibt es natürlich auch immer die Möglichkeit, weitere assoziierte Partner aufzunehmen. Dazu können auch kommunale Verwaltungen zählen. Die Beteiligung Einzelner am Projekt ist immer sehr stark vom jeweiligen Kontext abhängig: nicht jeder Akteur muss beispielsweise in jedem Schritt gleich stark involviert sein.
Welche Herausforderungen treten bei der Durchführung von Reallaboren auf, und wie werden diese bewältigt?
Es kann viele Herausforderungen geben. Das beginnt mit der Zusammenarbeit mit den Praxisakteuren, weil da verschiedene Ansichten, Arbeitsweisen und vielleicht auch eine unterschiedliche Agenda aufeinandertreffen. Auch die Einbindung der Bürger*innen kann herausfordernd sein, weil wir als Wissenschaftler*innen nicht die Projektidee geben, sondern auch daran bereits alle beteiligt sein sollen. Das ist natürlich auch eine Chance für alle, aber es braucht viel Einsatz aller Beteiligten. Und als dritte Herausforderung sehe ich den Wissenstransfer. Wie schaffen wir es, Ergebnisse aus diesem recht spezifischen Kontext mit konkreten Akteuren mit einer konkreten Fragestellung zu abstrahieren und auch verständlich an andere Akteure aus der Wissenschaft und aus der Praxis außerhalb der konkreten Projektregion zielgruppengerecht zu kommunizieren?
Wie wird der Erfolg von Reallaboren gemessen und wie werden die gewonnenen Erkenntnisse in die Politikgestaltung und Praxis umgesetzt?
Erst mal ist man im Mikrokosmos des Reallabors gebunden, also räumlich und thematisch begrenzt. Aber das Ziel bei einem Reallabor ist natürlich, dass es über das Reallabor selbst hinauswirkt, also dass das erlangte Wissen auch an andere Akteure weitergegeben wird. Das kann beispielsweise durch Handlungsempfehlungen erfolgen und auch Erfahrungsberichte. Für die Wissenschaft schreiben wir Studien, Berichte und sind auch auf Fachkonferenzen vertreten. Dort werden etwa methodische Fragen diskutiert und Fragen zur Evaluation besprochen.
In Reallaboren können die Bürger*innen selbst handeln und entscheiden, das schafft langfristig Bewusstsein und Interesse für die gemeinsam entwickelten Ideen. So gibt es dauerhaftes Engagement, um die Projekte zu verstetigen. Das Bewusstsein und viele lokale Initiativen tragen zur nachhaltigen Transformation bei.
Vielen Dank für das Interview.
Das Interview führten Hannah Oldenburg und Clara Wisotzky.
Dr. Manuela Weber ist Expertin für nachhaltige Mobilität und arbeitet im Bereich „Ressourcen & Mobilität“ am Standort Berlin.
Weitere Informationen
Magazin eco@work „Eine gemeinsame Aufgabe. Mitmachen bei der sozial-ökologischen Transformation“, März 2023
Blogbeitrag über die Gründungsveranstaltung „Zivilgesellschaft und Praxis im Fokus der Forschung“
Interview auf dem Blog mit Dr. Melanie Mbah über transdisziplinäre Forschung