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“Wir müssen neue Wege gehen“

Wie wertvoll ist die Beteiligung unterschiedlicher Interessengruppen an der Stadtentwicklung aus Sicht der Verwaltung? Und wie können Bürger*innen zum Mitmachen motiviert werden? Über diese Fragen haben wir mit Martin Hahn gesprochen. Er ist Leiter des Bauamtes von Wittenberge. Die Kleinstadt im Norden Brandenburgs beteiligt sich derzeit an einem Reallabor.

In einer Gemeinde zwischen Hamburg und Berlin ist die Einbeziehung der Bürger*innen schon lange Teil der kommunalen Politik: Wittenberge engagiert sich seit vielen Jahren dafür, verschiedene Perspektiven in die Stadtentwicklung zu integrieren. Wie gelingt es, unterschiedliche Akteur*innen für eine Mitwirkung zu begeistern? Wo liegen die Herausforderungen bei der Beteiligung? Antworten auf diese Fragen gibt Martin Hahn. Er leitet das Bauamt der Kleinstadt im Nordwesten Brandenburgs und berichtet auch über die ersten Erfahrungen aus dem Reallabor „Zukunft im ländlichen Raum gemeinsam gestalten (ZUGG)“. Dieses soll in Wittenberge und der Nachbargemeinde Perleberg unter der Überschrift „Wir machen Prignitz“ die Mobilität verbessern und die Innenstadt beleben.

Herr Hahn, wie kam es dazu, dass Wittenberge zum Reallabor wurde?

Eine alternative Herangehensweise an die Stadtentwicklung hat schon 2019 begonnen, als bei uns das Projekt „Summer of Pioneers“ stattfand. Hier ging es darum, Menschen aus den Metropolen das Leben auf dem Land schmackhaft zu machen. 20 Personen kamen nach Wittenberge, erhielten hier vergünstigen Wohnraum und einen Coworking-Space. Dadurch hat sich unser Netzwerk erweitert und das Öko-Institut sprach uns für das Projekt ZUGG an. Denn es war klar: Wir sind offen für Experimente.

Woher kommt diese Offenheit?

Wir haben festgestellt, dass klassische Partizipationsmaßnahmen, wie sie gesetzlich bei Planungs- und Bauvorhaben vorgesehen sind, häufig nicht ausreichen. Viele Wittenberger*innen bekommen davon überhaupt nichts mit. Gleichzeitig ist es oft schwierig, die Bürger*innen bei Maßnahmen der Stadtentwicklung mitzunehmen. Planungen bekommen eine deutlich höhere Akzeptanz, wenn wir vorher eine Mitwirkung organisieren. Gleichzeitig steigert es die Attraktivität von Wittenberge.

Warum ist das notwendig?

Wir sind jahrelang geschrumpft, diese Entwicklung konnten wir mittlerweile deutlich abfedern. Inzwischen kommen mehr Menschen nach Wittenberge als wegziehen. Da die Sterberate höher ist als die Geburtsrate, schrumpfen wir allerdings immer noch leicht. Und wenn jemand überlegt, hierher zu ziehen, ist es ein Pluspunkt, wenn er in Wittenberge etwas entdeckt, das er aus seiner Heimatmetropole kennt. Einen Coworking-Space zum Beispiel oder einen Lastenrad-Verleih.

Was sind für Sie die Vorteile von ZUGG?

Wir können herausfinden, welche Beteiligungsformate sich für unsere Stadt eignen und werden dabei professionell begleitet. Zusätzlich ist es aus unserer Sicht entscheidend, dass die Beteiligten auch in die konkrete Umsetzung integriert sind. Andere Projekte gehen oftmals nicht über die Ideenfindung hinaus.

Was sind Ihre Erfahrungen nach etwa einem Jahr Reallabor?

Dass es nie Routine wird, sondern viele Überraschungen warten. (lacht) Wir sehen immer wieder, dass eine Moderation des Prozesses durch Dritte sehr wichtig ist. Damit wird klar, dass die Kommune eben auch nur eine Beteiligte unter mehreren ist. Zusätzlich bekommen wir Tools an die Hand, die den Prozess effektiver machen.

Wie gelingt es, Bürger*innen für so einen Prozess zu motivieren?

Ursprünglich wollten wir einen Bürgerrat einrichten. Das ist leider vorerst am Datenschutz gescheitert. Wir hoffen, dass wir das zu einem späteren Zeitpunkt umsetzen können, da man hierfür Bürger*innen gezielt ansprechen kann. Schlussendlich haben wir die Wittenberger*innen über Postwurfsendungen informiert. Wichtig ist es aus meiner Sicht auch, unterschiedliche Formate anzubieten – so wie bei uns eine Online-Umfrage oder Workshops. Außerdem sollte man sich immer vor Augen halten, dass es auf die Ergebnisse ankommt, und nicht enttäuscht sein, wenn weniger Menschen mitmachen als gedacht. Wir merken aber auch, dass der Zuspruch der Bürger*innen steigt.

Woran liegt das?

Wir haben schon mehrere Beteiligungsprojekte umgesetzt. Wer sich einmal beteiligt hat, kommt beim nächsten Mal vielleicht auch dazu. So sind der Seniorenbeirat und das Jugendforum eigentlich immer dabei. Die Menschen sehen aber auch, dass etwas passiert. Dass sie sich beteiligen und daraus etwas für Wittenberge erwächst.

Welche sozialen Effekte sehen Sie?

Es gibt einen deutlich besseren Austausch zwischen unterschiedlichen Interessengruppen. Bei einem anderen Beteiligungsprojekt haben wir zum Beispiel unter anderem die Wohnungswirtschaft, den Einzelhandel und Bewohner*innen zusammengebracht. Dadurch entsteht eine größere gegenseitige Akzeptanz, weil man die verschiedenen Sichtweisen hautnah erlebt.

Dennoch gibt es bestimmt Kontroversen.

Auf jeden Fall. Wir hatten einmal ein Projekt, bei dem es darum ging, wie der Straßenausbau gestaltet wird. Ob Bäume gefällt werden oder nicht. Ob Parkplätze dazu kommen oder weggenommen werden. Da will der Einzelhändler natürlich, dass seine Kund*innen weiter mit dem Auto zu ihm kommen können. Eine Bewohnerin hingegen freut sich vielleicht über eine grünere Innenstadt und eine größere Sicherheit im Straßenverkehr. Hier müssen Kompromisse gefunden werden.

Wo liegen für Sie die größten Herausforderungen?

Man ist teilweise schon sehr eingeschränkt in den Handlungsmöglichkeiten – siehe das Problem mit dem Datenschutz. Wenn man Lastenräder anschaffen und temporäres Mobiliar in der Innenstadt aufbauen will, spielen außerdem die Verkehrssicherheit und das Ordnungsrecht eine Rolle. Bei ZUGG war es zudem nicht so einfach, Menschen zum Mitmachen zu bewegen. Es liefen ja parallel noch andere Beteiligungsformate und zudem beschäftigen sich die Bürger*innen aktuell zwangsweise auch eher mit anderen gesellschaftlichen Problemen.

Tauschen Sie sich mit anderen Kommunen aus?

Ja. In vielen Vorhaben ist das auch so angelegt. Dieser Austausch ist aus meiner Sicht auch sehr wichtig. Denn da könnte ich etwa von einer anderen Brandenburger Kommune lernen, wie es ihr gelungen ist, einen Bürgerrat einzusetzen. Oder ich lerne etwas über neue Formate.

Wie zum Beispiel?

Vor Kurzem habe ich von einem Format erfahren, bei dem Jugendliche über ein Computerspiel dafür begeistert werden sollen, ihre Stadt selbst zu gestalten. Gerade Kinder und Jugendliche sind oft sehr schwer zum Mitmachen zu motivieren. Hier müssen wir neue Wege gehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Christiane Weihe.

Martin Hahn ist Diplom-Ingenieur für Stadtplanung, sein Studium absolvierte er an der Universität Kassel. Er war bereits im Referat für Raumordnung und Raumordnungsrecht im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung tätig sowie als Referent Standortmanagement im Landesbetrieb Bau und Immobilien Hessen (LBIH). Seit 2012 leitet er das Bauamt in Wittenberge (Brandenburg). In Wittenberge und der Nachbarstadt Perleberg wird derzeit das Reallabor „Zukunft im ländlichen Raum gemeinsam gestalten (ZUGG)“ umgesetzt. Die Städte sollen sich zu Zukunftsorten entwickeln, die Lebensqualität soll steigen. Bis Juni 2024 werden Ideen für die Neubelebung der Innenstädte sowie Angebote für die Nah-Mobilität entwickelt und umgesetzt. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt wird vom Öko-Institut und dem Technologie- und Gewerbezentrum Prignitz (TGZ) begleitet

 

Weitere Informationen

Website „Summer of pioneers – Wittenberge”

Website „Wir machen Prignitz“

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