„Wir sehen einen echten Wandel“
Wie kann Klimaschutz in Kommunen aussehen und wie können einzelne Menschen zur Umsetzung beitragen? Rachel Waggett erstellt Klimastrategien für die Liverpool City Region und setzt sich mit Maßnahmen für den Klimaschutz und lebenswerten Regionen auseinander.
Die Menschen hängen an ihren Autos. Viel zu viele Häuser werden mit Erdgas beheizt. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals sieht es in Sachen Klimaschutz oftmals nicht viel anders aus als in Deutschland. Städte und Gemeinden stehen vor denselben Herausforderungen wie in der Bundesrepublik. Sie müssen ihre Bürger*innen zum Klimaschutz motivieren und Gebäudeeigentümer*innen zur Sanierung. Und gleichzeitig die Frage beantworten: Wer soll das in Zeiten knapper Kassen alles bezahlen?
Aber natürlich ist jede Kommune auch etwas Besonderes und Einzigartiges, hat ihre ganz persönlichen Herausforderungen und Chancen bei der Jahrhundertaufgabe, die Treibhausgasemissionen zu senken. So auch die Liverpool City Region. In dieser so genannten Combined Authority haben sich 2014 sechs Gemeinden zusammengeschlossen, darunter Liverpool City sowie Halton, St. Helens, Knowsley, Sefton und Wirral. In der Gesamtregion leben etwa 1,6 Millionen Menschen, sie stellt seit 2017 zudem einen eigenen Bürgermeister, den Metro Mayor. Die Liverpool City Region geht beim Klimaschutz sehr ambitioniert voran: Bis 2040 will die Region klimaneutral sein – und damit zehn Jahre früher als Großbritannien selbst. Eine klare politische Entscheidung.
Nur, wenn wir uns mutige Ziele setzen, kommen wir rechtzeitig auf den Weg.
Der Job von Rachel Waggett ist, Klimastrategien für die Liverpool City Region zu erstellen. Mit ihrer Arbeit dafür zu sorgen, dass die politischen Weichen richtiggestellt werden. Und ihre Kolleg*innen in allen Bereichen der Verwaltung mit ihrem Fachwissen dabei zu unterstützen, den Klimaschutz in ihre Arbeit zu integrieren. Sie tut dies derzeit als Principial Environment Officer der Combined Authority, sie war die erste in dieser Runde. „Das Ziel, bis 2040 auf ein Netto-Null bei den Treibhausgasemissionen zu kommen, zieht sich durch alles, was wir tun. Durch alle Abteilungen, über jeden Schreibtisch“, sagt Waggett. Ob sie dieses Ziel für erfüllbar hält? „Vielleicht nicht. Aber nur, wenn wir uns mutige und ambitionierte Ziele setzen, kommen wir rechtzeitig auf den Weg. Langfristige Ziele sorgen dafür, dass die Menschen sich zurücklehnen, weil sie ja vermeintlich noch sehr viel Zeit haben.“
In der Liverpool City Region habe man die Dringlichkeit verstanden, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen – auch, weil sie durch ihre Lage in Küstennähe von steigenden Meeresspiegeln besonders betroffen ist und schon heute die Auswirkungen des Klimawandels erlebt, etwa bei Überflutungen. „Das Bewusstsein für die Dringlichkeit zeigt sich auch daran, dass in unseren Jahresberichten immer die Frage behandelt wird, welche Auswirkungen die Arbeit auf das Ziel der Treibhausgasneutralität hat. Dieses Ziel wird damit zentral für die Entscheidungsfindung.“ Aber auch die eigenen Mitarbeiter*innen seien hoch motiviert. „Bis vor wenigen Jahren waren Klimaschutzaufgaben für sie wahrscheinlich oftmals eine zusätzliche Belastung. Doch heute sehen wir einen echten Wandel. Die Menschen verstehen, dass der Klimaschutz etwas ist, das man schon vor langer Zeit hätte angehen müssen. Sie wollen etwas beitragen und suchen unsere Unterstützung, sie sind wirklich interessiert an unserem Wissen – das ist sehr schön zu sehen und zu erleben.“
Der gesetzliche Rahmen hilft nicht weiter.
Autos und Erdgasheizungen sind nur zwei von vielen Herausforderungen, vor denen die Liverpool City Region steht. „Wir sind sehr stark in einem fossilen System verankert, bei der Heizenergie ebenso wie bei Antriebsenergien“, sagt Rachel Waggett. „Es ist schwer, die Menschen hier vor Ort etwa von einem Autoverzicht zu überzeugen. Auch, weil es in der Regel für sie natürlich viel bequemer ist.“ Eine immense Aufgabe ist es zudem, die Gebäude in der Region zu sanieren. „Es gibt hier viele über hundert Jahre alte Gebäude, die schlecht oder gar nicht gedämmt sind. Zusätzlich wird fast jedes Haus mit Erdgas geheizt. Allein aus Kostengründen würden sich Effizienzmaßnahmen und ein Heizungsaustausch hier lohnen.“ Aber auch hier steht Großbritannien vor ähnlichen Herausforderungen wie Deutschland: Es fehlt an Mitteln ebenso wie an qualifizierten Fachkräften. „Zusätzlich hilft uns der gesetzliche Rahmen nicht weiter: Danach ist es erst ab 2025 verboten, neue Erdgasheizungen einzubauen. Und dabei wird es uns schon Stand heute etwa 12 Milliarden Pfund (fast 14 Milliarden Euro, Anm. der Redaktion) kosten, die Häuser in der Region zu dekarbonisieren.“
Je länger wir warten, desto schwerer wird es.
Auch darüber hinaus ist die nationale Regulierung für die Arbeit von Rachel Waggett immer wieder ein Hemmschuh. „Wir sind ein sehr zentralisiertes Land mit einer ebenso zentralisierten Gesetzgebung. Das lässt leider wenig Raum für Veränderungen auf lokaler oder regionaler Ebene. Wir müssen vor allem daraufsetzen, den Klimaschutz anzureizen und haben hier nur sehr geringe Handlungsmöglichkeiten etwa im Ordnungsrecht.“ Auf nationaler Ebene wird aus ihrer Sicht zudem bei Weitem nicht genug getan. „Die Bemühungen der Regierungen reichen noch lange nicht aus. Und dabei sagen ja schon längst alle Regierungsberater*innen, dass es höchste Zeit ist, zu handeln. Wir brauchen ein klares und schnelles Commitment der Regierung für den Klimaschutz. Mir ist klar, dass Politik oft auf kurzfristige Entscheidungen ausgelegt ist, weil es immer darum geht, die nächste Wahl zu gewinnen, und dass es politischen Mut braucht, vorausschauende Entscheidungen zu treffen. Doch bei allem Verständnis für die vielen Stürme, die unsere Regierung in den vergangenen Jahren erlebt hat, und die schwierige allgemeine Lage: Wir brauchen jetzt diesen politischen Mut. Beim Klimaschutz muss man langfristig denken. Je länger wir warten, desto schwerer wird es. Desto schwerer wird auch unser Job.“ Natürlich versuche auch sie, die Regierung in diesem Sinne zu beeinflussen. „Unter anderem auch dadurch, dass wir zeigen, dass wir handeln wollen. Dass wir wirklich bereit sind.“
Mehr Handeln der Regierung heißt für Waggett auch: mehr Geld für den Klimaschutz. Denn anders als in Deutschland gibt es nur wenige übergreifende Programme, mit denen kommunale Maßnahmen finanziert werden können. „Bislang können nur Einzelpersonen Anträge stellen und auch das ist schwer. Wir brauchen aber ausreichende und übergreifende Mittel, um den Verkehr und die Gebäude zu dekarbonisieren – so über langfristige und gut finanzierte Förderprogramme. Sonst wird es auch mit dem 2050er-Klimaziel der Regierung nichts. Wir wissen, dass wir mehr tun könnten, und wir bemühen uns aktiv um mehr Befugnisse und Finanzmittel von der nationalen Regierung, damit wir die Ziele erreichen können.“
Nur 45 Prozent wissen, was sie tun können.
Die Liverpool City Region hat ihre Treibhausgasemissionen seit 2005 bereits um 40 Prozent gesenkt – vor allem über eine Dekarbonisierung des Stromverbrauchs. „Wir haben das Glück, nah am Meer zu sein, so dass wir bereits von einer großen Menge Offshore-Windenergie profitieren und wirklich innovative Projekte wie die Nutzung der Gezeitenkraft am Mersey River entwickeln. Unternehmen hier in der Region arbeiten bereits an Zukunftstechnologien, so der Herstellung von grünem Wasserstoff.“ Der Energieverbrauch sei in der Region jedoch weiter nach oben gegangen. „Aus einer Umfrage von 2021 wissen wir, dass die Einwohner*innen die Arbeit für den Klimaschutz zu 88 Prozent unterstützen. Aber nur 45 Prozent wissen, was sie selbst tun können. Diese Informationslücke müssen wir unbedingt schließen.“ Wichtig sei es zudem, die Vorteile des Klimaschutzes in den Vordergrund zu rücken. So mit Blick auf eine verbesserte Luftqualität, die Gesundheitsförderung durch aktive Bewegung zu Fuß oder auf dem Rad oder auch die wirtschaftlichen Vorteile einer grünen industriellen Revolution.
Und natürlich gibt es auch darüber hinaus noch viel zu tun. „Wir investieren zum Beispiel schon viel in die Fahrradinfrastruktur oder Schnellspuren für Busse. Und es muss noch mehr investiert werden – in emissionsarme Busse und Elektrofahrzeuge zum Teilen ebenso wie in einen bezahlbaren öffentlichen Verkehr. Wichtig ist es auch, das Stromnetz zu stärken, um es auf einen zusätzlichen Bedarf vorzubereiten.“
Kleine Veränderungen führen zu großen Veränderungen.
Rachel Waggett arbeitet seit fast dreißig Jahren für mehr Nachhaltigkeit. Im vergangenen Jahr erlebte sie einen großen Schritt nach vorne. Sie schrieb ein Papier darüber, wie es die Liverpool City Region bis 2040 schaffen kann, keine Treibhausgasemissionen mehr zu verursachen. „Ich habe schon unendlich viele solcher Papiere geschrieben. Doch zum ersten Mal merkte ich: Du brauchst den Abschnitt „Warum wir das tun müssen“ nicht mehr. Das Gefühl, die Menschen nicht mehr überzeugen zu müssen, gibt mir sehr viel Hoffnung. Gerade in einer Zeit, die für viele Menschen nicht einfach ist.“ Sie liebt es, die Menschen dazu zu befähigen, den Wandel zu mehr Nachhaltigkeit, zu mehr Umwelt- und Klimaschutz voranzutreiben. „Dieser Moment, in dem man sieht, dass sie verstanden haben, worum es geht. In dem klar ist, dass sie nun losziehen und für Veränderung sorgen werden – dieser Moment ist einfach unbezahlbar. Auch, wenn sie nur kleine Veränderungen durchführen. Denn kleine Veränderungen führen zu großen Veränderungen. Und viele kleine Veränderungen machen ebenfalls einen großen einen Unterschied.“
Für Waggett ist Klimaschutz zudem eine Frage der Fairness. Mit Blick auf Menschen, die von den Folgen des Klimawandels viel stärker betroffen sind und sein werden, obwohl sie deutlich weniger dazu beitragen. Das gilt für Bürger*innen des Vereinigten Königreichs, die wenig konsumieren, aber insbesondere für die Menschen im globalen Süden. „Wir müssen das richtig machen. Und das bedeutet auch, dass der globale Norden für den globalen Süden aufsteht.
Eine Gruppe, die etwas bewegen will.
Für den Klimaschutz in der Liverpool City Region ist auch die Zusammenarbeit mit anderen Kommunen sehr wichtig. Gerade mit jenen in der Nachbarschaft, die sehr ähnliche Herausforderungen zu bewältigen haben wie etwa Manchester. „Wir sind alle nachindustrielle Gemeinschaften. Wir teilen dieselben Herausforderungen, zum Beispiel kontaminiertes Land. Es hilft uns sehr, uns regelmäßig auszutauschen, Ideen zu besprechen, Wissen zu teilen.“ Die Mitarbeiter*innen aus Liverpool halten aber auch Kontakt zu europäischen Kommunen. „Auch wenn wir nach dem Brexit leider nicht mehr in gleicher Weise an europäischen Projekten teilnehmen können, können wir uns dennoch austauschen und voneinander lernen."
Diesen Austausch schätzt sie daher auch sehr in einem Projekt, das aktuell vom Öko-Institut gemeinsam mit der EBP Deutschland GmbH für das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung umgesetzt wird. Acht nationale und internationale Kommunen werden darin dabei unterstützt, einen Nachhaltigkeitsbericht zu erstellen. „Die Nachhaltigkeitsberichterstattung bringt den Klimaschutz auf jeden Fall voran. Denn hier muss man wirklich zeigen, was man gemacht hat – oder eben auch nicht.“ Für sie sei es zudem eine sehr wertvolle und positive Erfahrung, mit den anderen Städten und Gemeinden zu sprechen. „Wir teilen ähnliche Herausforderungen und ich lerne sehr viel und es ist schön, widergespiegelt zu bekommen, wie viel wir in der Liverpool City Region schon erreicht haben. Darüber hinaus darf man nicht unterschätzen, wie wichtig es ist, zu einer Gruppe von Menschen zu gehören, die etwas bewegen will. Wie schön und bestärkend das ist.“
Rachel Waggett ist seit April 2020 als Principal Environment Officer für die Liverpool City Region Combined Authority tätig. Zuvor kümmerte sie sich unter anderem als Climate Change Manager sowie als Special Projects Manager fast zehn Jahre lang beim Warrington Borough Council um die Dekarbonisierung von Infrastrukturen, die Reduzierung von Treibhausgasen in vielen anderen Bereichen sowie die Anpassung an den Klimawandel. Nachhaltigkeitsthemen begleiteten sie auch bei ihrer Arbeit als Associate Director für die Advanced Design and Sustainability Group in Nordengland sowie als Beraterin für die Energy and Environmental Consultancy.
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Website der Liverpool City Region
Jahresbericht 2021/2022 der Liverpool City Region Combined Authority