Technik ohne Zukunft?
Wenn in vier Jahren die letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet werden, sind wir dem Abschied von dieser Risikotechnik ein großes Stück näher gekommen. Natürlich werden uns der Rückbau der Anlagen sowie die Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle noch viele Jahrzehnte beschäftigen. Doch befinden wir uns dann endlich im Prozess der Abwicklung. Das heißt aber nicht, dass uns die Kernenergie als solche nicht mehr beschäftigen wird. Zwar haben auch andere Staaten der Kernenergie bereits den Rücken zugekehrt oder sind auf dem Weg dahin. Doch in aller Welt stehen noch viele Kernreaktoren.
So etwa die europäischen Anlagen: Sie werden immer älter und dies wirkt sich auch auf das Risiko aus. So ist die Alterung mit Verschleiß und Materialermüdung verbunden; zudem erfüllen die Anlagen immer weniger das heute in Deutschland und international geforderte Sicherheitsniveau. Das zeigen Analysen, die das Öko-Institut für die Kernkraftwerke Beznau in der Schweiz oder auch Fessenheim in Frankreich durchgeführt hat. Sie verdeutlichen, dass der Sicherheitsstatus beider Anlagen mehr als bedenklich ist – und das in einem sehr dicht besiedelten Gebiet. Viele europäische Kernkraftwerke wurden zu einer Zeit gebaut, in der bestimmte Einwirkungen von außen wie schwere Erdbeben oder Extremwetter, aber auch terroristische Angriffe nicht angemessen bedacht wurden. Die Möglichkeiten für adäquate Nachrüstungen sind hier begrenzt.
Europäische Neubauprojekte gibt es hingegen kaum und wenn, sind sie mit immensen Problemen verbunden: So haben sich etwa die Kosten für die Anlage im finnischen Olkiluoto verdreifacht, die ursprünglich geplante Bauzeit wurde weit überschritten. Ähnlich sieht es im französischen Flamanville aus. Dennoch denken Staaten wie Polen über einen Einstieg in die Kernenergie nach. Sie könnten von einem russischen „All-inclusive-Paket“ verführt werden, das die Länder von ökonomischen Risiken befreien soll, indem alle Schritte von Konzeption über Bau bis zur Rücknahme des abgebrannten Brennstoffes übernommen und finanziert werden und nur der abgenommene Strom bezahlt werden muss. Doch was passiert mit einer solchen Anlage, wenn der Vertragspartner pleite geht? Wie kommen die Staaten ihrer nationalen Aufgabe nach, die Sicherheit ihrer Bevölkerung zu gewährleisten?
Neue Kernkraftwerke spielen auch im Rest der Welt eine Rolle. In den USA wird der Bau von zwei der vier im Bau befindlichen Kernkraftwerken eingestellt, obwohl bereits mehrere Milliarden US-Dollar verbaut wurden. Staaten wie Ägypten, Nigeria oder die Türkei erwägen dennoch einen Neueinstieg. Denken diese Staaten umfassend darüber nach, was ein Einstieg bedeutet – auch mit Blick auf die Notwendigkeit einer unabhängigen Aufsichtsbehörde, von qualifiziertem Betriebspersonal oder auch eines Endlagers?
Den stärksten Rückenwind bekam die Kernenergie zuletzt aus China, das zeigt auch der World Nuclear Industry Status Report 2018, der unter anderem von der Stiftung Zukunftserbe gefördert wurde. Aufgrund des hohen Energiehungers des Landes wurde massiv in die Kernenergie investiert – aber übrigens auch in erneuerbare Energien. Zudem zeigte sich nach der Katastrophe von Fukushima eine deutliche Verlangsamung des Prozesses. Wie es mit den chinesischen Plänen mittelfristig weitergeht, ist heute offen.
Zu den vielen Risiken der Kernenergie gehören nicht nur die Alterung von Anlagen oder das Eintreten von Naturkatastrophen. Auch politische Krisen können die Reaktoren zu einer Gefahr für Mensch und Umwelt machen, das verdeutlicht das von der Stiftung Zukunftserbe geförderte Projekt „Nukleare Sicherheit in Krisengebieten“ des Öko-Instituts. Die Sicherheit ist durch gezielte Angriffe ebenso gefährdet wie durch instabile Verhältnisse, die etwa die externe Stromversorgung oder die Arbeit der Aufsichtsbehörden beeinträchtigen können.
Die Kernenergie ist aus meiner Sicht eine Technik ohne Zukunft. Dennoch ist es nach dem Abschalten des letzten deutschen Reaktors notwendig, die Expertise in Sachen Kerntechnik hierzulande nicht zu verlieren. Weil wir sie für die Endlagerung und den Rückbau brauchen werden, natürlich. Aber auch, um sprechfähig zu bleiben mit Blick auf die Nutzung der Kerntechnik in anderen Staaten, die schnell Auswirkungen auf unser Leben haben könnte.
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Die Sicherheit von Kernkraftwerken beschäftigt Dr. Christoph Pistner auf vielen verschiedenen Ebenen – zu den Schwerpunktthemen des stellvertretenden Leiters des Bereichs Nukleartechnik & Anlagensicherheit gehören Sicherheitsanalysen und die Auswerung von Ereignissen in Kernkraftwerken ebenso wie die Weiterentwicklung des kerntechnischen Regelwerks. Darüber hinaus ist der Physiker unter anderem Mitglied in der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) des Bundesumweltministeriums.