„Mit 90 Prozent sind wir sehr zufrieden.“
Christiane Weihe
Aus einem abbruchreifen Wohnviertel einfach ein neues bauen und dabei nichts wegwerfen – geht das? Die Stadt Heidelberg versucht das gerade. Im Patrick-Henry-Village am Rande der Stadt – einer ehemaligen Unterkunft für amerikanische Soldatenfamilien – wird jeder Ziegel, jede Kloschüssel, jeder Wasserhahn und jeder Lichtschalter erfasst, um möglichst viel davon erneut zu nutzen oder zur Wiederverwendung weiterzugeben. Wir haben mit dem Ersten Bürgermeister Jürgen Odszuck über dieses Pilotprojekt gesprochen. Odszuck kennt sich gut aus im Baubereich. Schon vor dem Architekturstudium hat er auf Baustellen gearbeitet, später war er unter anderem als stellvertretender Leiter des Bauaufsichtsamts in Erlangen tätig.
Herr Odszuck, aus Ihrer Erfahrung im Bausektor: Seit wann spielt die Möglichkeit, Baustoffe erneut zu verwenden, eine Rolle?
Was Jahrhunderte lang gelebte Praxis war, geriet in den vergangenen Jahrzehnten in Vergessenheit. Alles musste möglichst einfach, schnell und günstig sein. Aber mit den vielfältigen Herausforderungen, etwa der Klimakrise und der Ressourcenknappheit, wurde klar: So kann es nicht weitergehen. Und der Bausektor kann einen großen Beitrag leisten, schließlich entstehen hier welt-weit etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen.
Heidelberg geht derzeit das Thema Urban Mining im Gebäudebereich sehr aktiv an. Wie kam es dazu?
Die Stadt entwickelt auf der Fläche eines ehemaligen Güterbahnhofs den Stadtteil Bahnstadt. Er folgt konsequent den Nachhaltigkeitskriterien Klimaneutrale Wärmeversorgung. In Verbindung mit dem Passivhausstandard für alle Gebäude reduziert das den CO2-Ausstoß um 85 Prozent gegenüber dem Bundesdurchschnitt. Doch wir merken auch: Es wird lange dauern, bis die Emissionen aus dem Bau ausgeglichen sind. Wir müssen an die Frage ran, womit wir neue Häuser bauen.
Nun haben Sie ein Pilotprojekt gestartet. Was beinhaltet dieses?
Wir wollen das Material der abzubrechenden Häuser weitestgehend für den Neubau wiederverwenden. Zunächst haben wir ein digitales Kataster erstellt. Jetzt wissen wir bei jedem Gebäude ziemlich genau, welche Rohstoffe darin stecken. Für ein Areal von 15 Hektar wissen wir es sogar sehr genau. Da wurden Materialschätzungen durch Bohrungen in Decken und Wänden verifiziert. Das war auch nötig wegen möglicher Schadstoffbelastungen. Derzeit sind wir dabei, die Frage zu beantworten, was wir beim Neubau wiederverwenden und wofür wir andere Nutzungen finden können. Darüber hinaus bereiten wir Ausschreibungen für den Neubau vor.
Soll es in Zukunft ein solches Kataster für die ganze Stadt geben?
Darüber haben wir nachgedacht. Denn die Erstellung war einfacher als gedacht. Alleine über das Baujahr, die Art der Nutzung und die Gebäudeklasse kann man Schätzungen über das verbaute Material abgeben, die in der Regel weniger als zehn Prozent von der Realität abweichen. Aus meiner Sicht lohnt es sich aber nur dort ein Kataster zu erstellen, wo in den nächsten zehn Jahren relevante Veränderungen anstehen.
Wie viel Material werden Sie im Patrick Henry-Village dem Recycling zuführen können?
Insgesamt sprechen wir über etwa 466.000 Tonnen Material, davon allein rund 235.000 Tonnen Beton. Werden 90 Prozent davon recycelt oder wiederverwendet, sind wir sehr zufrieden. Bei manchen Dingen lohnt es sich einfach nicht – etwa, wenn der Verputz mit Asbest belastet ist. Es würde zu viel Geld und Energie kosten, diesen zu eliminieren.
Und wie viel darf das alles kosten – im Vergleich zu einem Neubau aus Primärrohstoffen?
Wir sind zufrieden, wenn wir eine schwarze oder auch rote Null schreiben. Denn es ist ja eine deutlich ökologischere und klimafreundlichere Art des Bauens, zudem erproben wir neue Wege und Verfahren. Und man darf die volkswirtschaftlichen Kosten, die mit Umwelt- und Klimabelastungen verbunden sind, nicht vergessen.
Braucht es neue Rahmenbedingungen, um solche Pilotprojekte zu erleichtern?
Auf jeden Fall. So scheitert die Wiederverwendung häufig an den Qualitätsnachweisen der durch das Recycling gewonnenen Baustoffe. Für viele der Materialien aus jahrzehntealten Gebäuden gibt es hier aber keine Zertifikate mehr. Und jene, die diese gerne nutzen wollen, befürchten zurecht Probleme mit der Gewährleistung. Hier braucht es neue Ansätze, um den Risiken für die Beteiligten zu begegnen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Christiane Weihe.
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Im Interview mit eco@work: Jürgen Odszuck, Erster Bürgermeister der Stadt Heidelberg
Weitere Informationen
Jürgen Odszuck
Stadt Heidelberg
Erster Bürgermeister
E-Mail: ebmhd@heidelberg.de
Web: www.heidelberg.de
Zur Person
Jürgen Odszuck hat langjährige Erfahrungen im Bausektor: Als er auf einen Studienplatz für Architektur wartete, war er als Bauarbeiter tätig. Darüber hinaus hat er den Master-Studiengang Urban Environmental Management absolviert. Später war Odszuck unter anderem Städtebaureferendar in Regensburg, stellvertretender Leiter des Bauaufsichtsamts und des Stadtplanungsamtes in Erlangen sowie Dezernatsleiter mit den Bereichen Stadtplanung, Umwelt, Liegenschaften sowie Hoch- und Tiefbau in Kronberg im Taunus. Zudem trägt er den Titel eines Regierungsbaumeisters.
Seit Oktober 2016 ist Odszuck Erster Bürgermeister der Stadt Heidelberg im Dezernat für Stadtentwicklung und Bauen. Er ist zudem unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft für Grund- und Hausbesitz (GGH), stellvertretender Vorsitzender der Konversionsgesellschaft Heidelberg mbH sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB).