Langsames Verschwinden
Die letzte Kilowattstunde ist im Netz. Und jetzt? Anders als beim Berliner Flughafen Tegel oder dem Gasometer in Oberhausen ist die alternative Nutzung bei Kernkraftwerken nach ihrem Betrieb keine allzu verlockende Option. Ihr Rückbau ist daher die einzige Alternative und bereits an mehreren Standorten im Gang. Das komplexe Verfahren kostet für einen Reaktor rund eine dreiviertel Milliarde Euro. Von der Planung des Rückbaus bis zu seiner Beendigung können 20 Jahre und mehr vergehen, die Expertise von Mitarbeitern des Kernkraftwerks und externen Fachleuten ist ebenso nötig wie eine fachkundige behördliche Aufsicht.
Stück für Stück wird ein Kernkraftwerk auseinander genommen. Ein Großteil der Radioaktivität wird dabei schon entfernt, wenn die Brennelemente aus dem Lagerbecken abtransportiert und kontaminierte Rohrleitungen des Primärkreislaufs gespült sind. Doch auch dann steckt Radioaktivität in jedem Reaktor, teils hoch konzentriert, teils über Systeme und Raumbereiche als Kontamination verteilt. „Daher ist es wichtig, den Rückbau sorgfältig zu planen und vorzunehmen, da sonst eine Kontaminationsverschleppung droht, also Radioaktivität etwa durch Stäube oder Flüssigkeiten an Orte getragen wird, die bislang nicht radioaktiv verschmutzt waren“, erklärt Christian Küppers, stellvertretender Leiter des Bereichs Nukleartechnik & Anlagensicherheit am Öko-Institut. Was mit den Einzelteilen des Kernkraftwerks geschieht, unterliegt klaren Vorgaben. „Beim Rückbau eines Reaktors fallen unterschiedliche Abfälle an – natürlich auch solche, die so stark radioaktiv belastet sind, dass sie in ein Zwischen- bzw. später ein Endlager gebracht werden müssen“, erklärt Küppers, „das betrifft insbesondere den Reaktordruckbehälter und seine Einbauten.“ Darüber hinaus gibt es Materialien und Flächen, die im Rückbauverfahren dekontaminiert werden können – „etwa durch Abtragen oder Sandstrahlen“. Werden bestimmte Werte der Kontamination, die sogenannten Freigabewerte, unterschritten, gelten die Materialien als nicht radioaktiv und können konventionell entsorgt werden. Dies trifft auf einen Großteil des anfallenden Abfalls zu. Damit mögliche Strahlenbelastungen und Risiken auf ein sehr niedriges Niveau begrenzt werden, sind unterschiedliche Freigabeoptionen definiert. „Es gibt etwa die uneingeschränkte Freigabe von Bauschutt, der dann zum Beispiel im Straßenbau eingesetzt werden kann“, sagt der Wissenschaftler. Zusätzlich sieht die Strahlenschutzverordnung eingeschränkte Freigaben vor – so etwa von Metallschrott zum Einschmelzen oder von festen und flüssigen Stoffen zur Beseitigung. „Die Stoffe können dann zum Beispiel auf eine Deponie verbracht werden – an die bestimmte Anforderungen gestellt werden“, so Küppers, „das betrifft etwa die Basisabdichtung der Deponie und ihre Größe.“
Für die Abfallwirtschaftsgesellschaft des Neckar-Odenwald-Kreises (AWN) befassen sich die Wissenschaftler des Öko-Instituts derzeit mit der Freigabe von beim Rückbau des Kernkraftwerks Obrigheim (KWO) anfallenden Abfällen und ihrer Deponierung auf der Deponie Buchen-Sansenhecken. „Die AWN hat uns mit einer Stellungnahme zu Fragen der Freigabe sowie mit späteren Kontrollen im Kernkraftwerk beauftragt“, erklärt der Experte. Die Stellungnahme umfasst eine Darlegung grundlegender Anforderungen der Freigabe sowie die Analyse der das KWO betreffenden Regelungen und beschäftigt sich mit den Messungen bei der Freigabe. Darüber hinaus setzt sich die Stellungnahme mit dem Entsorgungskonzept auseinander und bewertet es. „Die Deponie Buchen-Sansenhecken erfüllt die Anforderungen der Strahlenschutzverordnung an Deponien, auf die Abfälle gebracht werden, die zur Beseitigung freigegeben sind“, sagt Christian Küppers. Die Freigabewerte seien zudem unter pessimistischen Annahmen hergeleitet worden, welche die zu erwartenden radiologischen Folgen überschätzen. „Handlungsanleitungen des Landkreistags Baden-Württemberg an Abfallerzeuger und Deponiebetreiber verringern mögliche Strahlenexpositionen zusätzlich“, so Küppers. Sobald die Deponierung in Buchen-Sansenhecken beginnt, werden die Experten des Öko-Instituts Kontrollen am KWO durchführen. „Es muss sichergestellt sein, dass nur Dinge auf die Deponie gebracht werden, die zu diesem Zweck freigegeben werden können“, sagt der Wissenschaftler.
Was der Rückbau von Kernkraftwerken für Mensch und Umwelt bedeutet, untersuchen die Experten des Öko-Instituts auch im Rahmen zahlreicher Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVPs) für Rückbauvorhaben, so etwa 2008 für den Versuchsreaktor AVR in Jülich. Analysiert wurden im Auftrag des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen mögliche Auswirkungen durch radioaktive Stoffe und Abwässer ebenso wie die Wirkungen von Luftschadstoffen und Lärm. Betrachtet wurden unter anderem die Konsequenzen für die menschliche Gesundheit, Tiere und Pflanzen sowie für Wasser und Boden. Im Rahmen der UVP haben die Wissenschaftler Vorschläge für Auflagen beim Rückbau des AVR entwickelt, die etwa die Entwicklung von Staub und Lärm beim Abriss der Gebäude betrafen. „Dieser wird beim Rückbau eines Kernkraftwerks vom Betreiber oft nicht beantragt, mit dem Argument, die Gebäude könnten eventuell noch anderweitig genutzt werden“, erklärt Küppers, „wobei die Gebäude aber in der Regel für keine Nachnutzung interessant sind. Wird der Gebäudeabriss nicht mit beantragt, so entfällt rechtlich leider seine Bewertung in einer UVP.“
Derzeit erstellen die Wissenschaftler im Auftrag des TÜV Süd zwei UVPs für den Rückbau der Kernkraftwerke Philippsburg 1 und Neckarwestheim 1. „Im Sommer 2015 wird es Termine zur öffentlichen Diskussion der beiden Rückbauvorhaben geben. Hierbei sind wir als Gutachter vertreten, um Fragen zur Umweltverträglichkeit zu beantworten“, sagt der Experte. Derzeit laufen auch fünf Vorprüfungen der Umweltverträglichkeit. „Diese sind notwendig, weil im Zuge des Rückbaus neue Anlagen gebaut werden sollen – etwa für Abfalllager sowie für die Reststoffbehandlung.“ Mit der Vorprüfung soll untersucht werden, ob im Einzelfall eine UVP notwendig ist.
Mindestens noch 25 Jahre
Der Rückbau der Kernkraftwerke ist ein Thema, das Deutschland noch lange beschäftigen wird. Nachdem 2022 der letzte Reaktor abgeschaltet ist, rechnet der Experte vom Öko-Institut mit einer Zeitspanne von mindestens 25 Jahren bis alle Rückbauprojekte abgeschlossen sind. „Doch das betrifft nur jene Kernkraftwerke, die tatsächlich direkt nach Betriebsende zurückgebaut werden“, sagt er, „darüber hinaus gibt es den Reaktor in Hamm-Uentrop im so genannten sicheren Einschluss. Bei diesem Verfahren werden die Brennelemente entfernt, die radioaktiven Teile räumlich konzentriert und möglichst viele der nicht radioaktiven Stoffe und Gebäude schon entsorgt.“ Ein Vorgehen, das Küppers kritisch sieht. „Der sichere Einschluss kann vierzig Jahre andauern. Danach ist kein Personal mehr verfügbar, das die Anlage kennt. Für die Planung und Durchführung eines Rückbaus hat sich in der Vergangenheit die Kenntnis der Anlage aus Bau und Betrieb aber immer wieder als sehr wichtig erwiesen“, sagt er. Die letzte Kilowattstunde ist im Netz? Wenn es nach dem Experten dem Öko-Institut geht, muss dann so schnell wie möglich der Rückbau beginnen – „alles andere ist nur eine Vertagung und wird manche Probleme verschärfen“. Christiane Weihe