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Er ist die wichtigste Komponente im Kernkraftwerk: der Reaktordruckbehälter (RDB). In ihm befindet sich der radioaktive Kernbrennstoff, der mittels Kernreaktion enorme Wärme produziert. Der RDB versprödet infolge der extremen radioaktiven Strahlung im Laufe der Betriebsjahre, seine Materialeigenschaften und seine Robustheit gegenüber Störfallbedingungen verschlechtern sich kontinuierlich. Bei zu hoher Versprödung kann ein Störfall, bei dem der heiße Reaktor Kühlmittel verliert und kurzfristig mit kälterem Notkühlwasser geflutet werden muss, zum Thermoschock-Versagen des Reaktordruckbehälters führen.
Wenn der RDB durch solch einen Sprödbruch versagt, wird die Kühlung des Kernbrennstoffs unmöglich, eine Kernschmelze mit der Gefahr großer Freisetzungen von Radioaktivität in die Umwelt droht. Sicherheitseinrichtungen gibt es für diesen Ernstfall nicht. Eigentlich müsste es überflüssig sein zu sagen, dass an den Reaktordruckbehälter höchste Sicherheitsanforderungen zu stellen sind. Doch der Umgang mit den Reaktordruckbehältern der belgischen Anlagen Doel 3 und Tihange 2 lässt erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass hier die Sicherheit der Bevölkerung an erster Stelle steht.
Bei Ultraschalluntersuchungen wurden 2012 an den 34 Jahre alten belgischen Reaktordruckbehältern Materialfehler in erschreckendem Ausmaß festgestellt, in Doel 3 waren es mehr als 13.000 Risse, in Tihange 2 rund 3.000. Daraufhin untersuchte man auch den RDB von Beznau 1 und fand clusterartige Ansammlungen von insgesamt rund 1.000 Materialfehlern. Beznau 1 ist mit 47 Jahren das älteste Kernkraftwerk der Welt und liegt acht Kilometer von der Grenze Baden-Württembergs entfernt. Sein RDB war bereits 2011 so stark versprödet, dass die Betreiber schon damals größte Mühe hatten, den so genannten Integritätssicherheitsnachweis zu führen. Mit der Entdeckung der Materialfehler verschärft sich dieses Problem.
Der Nachweis, dass der Reaktordruckbehälter auch unter Störfallbedingungen keinen Sprödbruch erleidet, muss mit Materialproben geführt werden, die den RDB-Zustand genau wiedergeben. Sie sollten aus dem gleichen Material bestehen, gleiche Fehler haben und einer vergleichbaren Strahlungsversprödung unterworfen worden sein. Alle drei Anlagen haben allerdings keine ausreichenden Originalproben mehr und versuchen als Notlösung, den Nachweis mit Ersatzmaterialien zu führen. Nach Ansicht des Öko-Instituts verbleiben bei den notwendigen Sicherheitsnachweisen der belgischen Reaktoren aus einer Reihe von Gründen hohe Unsicherheiten – Doel 3 und Tihange 2 sind dennoch derzeit wieder in Betrieb. Diese Anlagen stehen besonders im Fokus des Öko-Instituts. So haben wir das Umweltministerium Nordrhein-Westfalen – Aachen etwa liegt nur gut 60 Kilometer von Tihange entfernt – bei der Bewertung von Unterlagen der belgischen Atomaufsichtsbehörde FANC unterstützt. Das Land beteiligt sich inzwischen an einer Klage der Städteregion Aachen gegen Tihange 2.
Dass der Betreiber von Beznau, Axpo, mit der Versprödung seines RDB Probleme hat, haben wir zudem in unserer Stellungnahme „Ultraschallbefunde des Kernkraftwerks Beznau“ dargelegt. Für Greenpeace Schweiz haben wir die dort vorgefundenen Materialfehler und die geplante Nachweisführung bewertet. Derzeit ist Beznau 1 nicht in Betrieb, die Aufsichtsbehörde muss noch den Integritätsnachweis prüfen. Der ist nach unseren Erkenntnissen – wenn überhaupt – nur unter erheblicher Reduzierung der Sicherheitsmargen möglich. Dies sollte man bei Altanlagen in dicht besiedelten Regionen vermeiden.
Es ist zu vermuten, dass es in Europa weitere Reaktoren gibt, die von ähnlichen Materialproblemen wie die genannten Anlagen betroffen sein könnten. Den Betreibern und Materialexperten, die mit immer weniger konservativen Berechnungsmethoden und teils sehr kleinen, teils reparierten, teils replizierten Materialproben sukzessive die Sicherheitsmargen zur Erfüllung der Integritätsnachweise reduzieren, sollten Grenzen gesetzt werden. Das trifft derzeit eindeutig für Beznau 1, Doel 3 und Tihange 2 zu. Wir sagen daher: Es ist Zeit, endlich umzusteigen. Zeit, den langfristigen Betrieb von Altreaktoren zu beenden und unser aller Sicherheit an erste Stelle zu rücken. Und nicht zuletzt: Die Energiewende voranzutreiben. Denn sie ist unsere Zukunft.