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Im Fokus

Keine Renaissance

Die Zukunft der Kernenergie

Christiane Weihe

Lange war es recht ruhig um sie. Doch mit den verstärkt zu spürenden Auswirkungen des Klimawandels und nicht zuletzt den Folgen des Kriegs in der Ukraine für die Energiemärkte sind die Diskussionen über die Kernenergie wieder deutlich lauter geworden. Aus vielen – erwartbaren und unerwarteten – Ecken schallt ein Ruf nach einem Festhalten an dieser Technologie, nach längeren Laufzeiten, sogar nach neuen Reaktoren. Doch lohnt es sich tatsächlich, wieder auf die Kernenergie zu setzen? Was lernen wir vom Blick auf andere Länder und neue Reaktorkonzepte? Kurz gefragt: Hat die Kernenergie eine Zukunft?

Wer 2022 auf die EU blickt, könnte ein Wiederaufleben der Kernenergie für möglich halten. Denn in die EU-Taxonomie, die Investitionen in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten lenken soll, wurde auch die Kernenergie einbezogen. Atomkraft als nachhaltige Zukunftstechnologie? Da haben viele ungläubig den Kopf geschüttelt, auch Dr. Christoph Pistner vom Öko-Institut. „Es gibt sehr viele, sehr gute Gründe für einen Ausstieg und kaum welche, langfristig in diese Technologie zu investieren“, sagt der Leiter des Bereichs Nukleartechnik & Anlagensicherheit (zu den Gründen des Ausstiegs siehe ausführlich Artikel „Die Auslauftechnologie“ auf ­Seite 6).

Die EU-Taxonomie

Warum also ist die EU-Kommission diesen Schritt gegangen? „Eine Grundlage der Entscheidung war ein Bericht des Joint Research Centre, kurz JRC, das im Auftrag der Europäischen Kommission geprüft hat, ob die Kernenergie einen signifikanten Schaden für Mensch und Umwelt verursachen kann. „Es kam zu dem Schluss, dass sie das nicht tut und als nachhaltige Technologie gefördert werden kann“, erklärt Pistner. In der Analyse „Sustainability at risk“ für die Heinrich-Böll-Stiftung hat das Öko-Institut die Argumentation des JRC geprüft. „Der Bericht betrachtet wesentliche Risiken nicht in der notwendigen Tiefe, so die Verbreitung von Kernwaffen. Allein die Gefahr katastrophaler Unfälle reicht zudem aus, die Kernenergie nicht als nachhaltig einzustufen.“ Das JRC aber habe nur unzureichende Daten und Auswertungen herangezogen, wie sich katastrophale Unfälle tatsächlich auswirken können und nur wenige Indikatoren zur Bewertung solcher Unfälle berücksichtigt. „Nicht betrachtet wurden etwa die Zahl evakuierter oder umgesiedelter Menschen, die über lange Zeit kontaminierten Flächen oder die wirtschaftlichen Folgen. Wird dies aber ausgeblendet, erhält man keine umfassende Bewertung.“ Darüber hinaus bemängelt der Nuklearexperte, dass das JRC die Risiken einer militärischen Nutzung von ziviler Kerntechnik, die so genannte Proliferation, überhaupt nicht thematisiert. „Dabei hätte ein Einsatz von Kernwaffen katastrophale Folgen. Darum muss man in eine solche Bewertung auch das Risiko einbeziehen, dass die zivile Kerntechnik zu den Kernwaffenprogrammen von Staaten beiträgt.“

Zwar lehnt auch die deutsche Bundesregierung die Einstufung von Atomkraft als nachhaltig im Rahmen der EU-Taxonomie ab. Doch für Dr. Christoph Pistner geht das nicht weit genug. Er wünscht sich, dass sich Deutschland auch international deutlich stärker in die Debatten über Kernenergie einbringt und die eigene Position zum Atomausstieg offensiv vertritt. „Wenn Deutschland mit seinem Know-how den Ausstieg entschieden vertritt, könnten vielleicht auch andere Länder zu dem Schluss kommen, dass die Kernenergie keine zukunftsfähige Technologie ist.“

Rückbau und Endlagerung

Wenn das letzte Kernkraftwerk in der Bundesrepublik abgeschaltet ist, ist das Thema Kernenergie aber auch hierzulande noch lange nicht beendet. So hat etwa der Rückbau der Anlagen bereits begonnen, doch bis alle Reaktoren verschwunden sind, wird es noch sehr viele Jahre dauern. „Darüber hinaus gibt es Altlasten wie stark kontaminierte Versuchsreaktoren, die im sicheren Einschluss sind und deren Rückbau noch nicht mal geplant ist“, so der Bereichsleiter vom Öko-Institut.

Die Hinterlassenschaften des Atomzeitalters werden Deutschland noch lange beschäftigen – so etwa mit Blick auf die Einrichtung eines Endlagers für hochradioaktive Abfälle. Allein bis zum Beginn einer Einlagerung in ein geologisches Endlager werden in Deutschland noch Jahrzehnte vergehen. In anderen Staaten sieht es nicht viel besser aus. „Sehr wenige Länder haben sich hier auf den Weg gemacht. Schweden hat die Genehmigung für den Bau erteilt, Frankreich und die Schweiz haben einen Standort im Auge. Nur Finnland hat ein konkretes Datum und will sein Endlager 2023 in Betrieb nehmen.“ Endlagerung ist nicht nur aufgrund der langsamen Umsetzung ein Thema für viele Generationen – die Abfälle müssen schließlich für mindestens eine Million Jahre sicher untergebracht sein. „Es ist extrem wichtig, dass das Thema im Bewusstsein bleibt und das notwendige Know-how nicht verloren geht. Wir werden noch lange Expert*innen brauchen, die sich etwa mit technischen Fragen oder dem Strahlenschutz auskennen – für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle ebenso wie für den Rückbau.“

Kernenergie weltweit

Expertise braucht es in Deutschland auch, weil andere Länder weiter auf die Erzeugung von Atomstrom setzen. Reaktoren werden weiter betrieben oder sogar neu gebaut. In der EU gibt es 104 von ihnen, über die Hälfte davon steht in Frankreich – auch in unmittelbarer Nähe zur deutschen Grenze. Finnland und Schweden, Tschechien und die Slowakei setzen ebenso auf Kernenergie. „Die Sicherheit der Anlagen und die Notwendigkeit von Nachrüstungen müssen kontinuierlich überprüft werden – nicht nur in der Schweiz, wo neben Indien und den USA die weltweit ältesten Anlagen stehen“, fordert Christoph Pistner. „In Frankreich wurden zum Beispiel noch nicht einmal alle Nachrüstungen umgesetzt, die nach Fukushima diskutiert wurden.“ Im Schnitt sind die weltweiten Reaktoren etwa 31 Jahre alt, die europäischen sogar 37 Jahre – das macht ihren Betrieb kontinuierlich riskanter. „Die Technik wird durch Verschleiß und Materialermüdung störanfälliger, dem muss durch kontinuierliche Instandhaltung entgegengewirkt werden. Lange und ungeplante Stillstände sind die Folge. Zusätzlich sind die Sicherheitsanforderungen heute deutlich strenger, viele ältere kerntechnische Einrichtungen sind nicht so geschützt wie neuere Anlagen.“

Zusätzlich gibt es Neueinsteiger – so Ägypten, Bangladesch und die Türkei, die dabei etwa auf eine Zusammenarbeit mit Russland setzen. „Das wirft die Frage auf, ob sich die Länder so nicht in neue Abhängigkeiten begeben – und ob sie sich überhaupt auf ihre Vertragspartner verlassen können. Man sieht ja, wie etwa Russland – übrigens insgesamt ein großer Player in der Atomindustrie – die Energieversorgung im Zuge des Ukraine-Kriegs als taktische Waffe einsetzt.“

Dieser Krieg werfe mit Blick auf die Kernenergie zudem eine weitere Frage auf: Sind die heutigen Atomkraftwerke in einer solchen Situation überhaupt noch sicher genug? „In der Vergangenheit hat man sich im Wesentlichen darauf verlassen, dass der militärische Angriff auf ein Atomkraftwerk ein Tabu ist – und ein vollständiger Schutz dagegen weder möglich noch nötig ist“, sagt der Bereichsleiter. „Wenn aber sogar ein Staat wie Russland, der selbst Reaktoren entwickelt und baut, nicht davor zurückschreckt, diese in einen militärischen Konflikt reinzuziehen, hat sich dieses Tabu erledigt. Denn im Ukraine-Krieg wird billigend in Kauf genommen, dass ein Reaktor einen katastrophalen Unfall erleiden könnte.“ Daher müssen internationale Regelwerke und Standards jetzt darauf geprüft werden, welche Verbesserungen möglich und nötig sind, um Anlagen auch vor militärischen Einwirkungen besser zu schützen.

Neue Technologien

Doch was ist mit den neuen Reaktoren der so genannten vierten Generation, die geringere Kosten bei gleichzeitig höherer Sicherheit versprechen? Sollten sie nicht Anlass geben, ein weiteres Mal den Ausstieg aus dem Ausstieg in Erwägung zu ziehen? Derzeit sind die Reaktoren der dritten Generation auf dem Markt, zu ihnen gehört auch der Europäische Druckwasserreaktor (EPR). „Die Konzepte der sogenannten vierten Generation versprechen, dass die Reaktoren sicherer und ökonomischer werden, den Brennstoff besser ausnutzen und dass sie das Entsorgungs- und Proliferationsproblem angehen.“ Diese Versprechungen hält der Experte vom Öko-Institut aber für „völlig unrealistisch“. „Das Problem ist: Keines der bisherigen Konzepte liefert Lösungen für alle relevanten Themenfelder. Zusätzlich halten selbst die Entwickler*innen die Generation IV frühestens 2045 für marktfähig – das ist deutlich zu spät für die weltweit angestrebte Klimaneutralität.“

Zu den aktuell diskutierten Technologien gehören auch die Small Modular Reactors, kurz SMR. Sie sollen 1,5 bis 300 Megawatt (MW) elektrische Leistung erzeugen statt 1.000 bis 1.600 MW wie die heutigen Kraftwerke. Laut ihren Befürworter*innen sind die von ihnen ausgehenden Gefahren kleiner, etwa weil sie über ein geringeres radioaktives Inventar verfügen sollen.

Im Gutachten „Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten“ für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) hat sich das Öko-Institut ausführlich mit SMR befasst. „Sie werden momentan oft als Zukunft der Kernenergie bezeichnet, dabei geht ihre Entwicklung bis in die 1950er Jahre zurück.“ Gemeinsam mit der TU Berlin und dem Physikerbüro Bremen hat das Öko-Institut eine Einschätzung der Reaktorkonzepte sowie unter anderem auch der Risiken verfasst. „Insgesamt bringen SMR die gleichen Probleme der Kernenergie mit sich wie größere Reaktoren, es gibt maximal Verbesserungen in einzelnen Problemfeldern“, sagt Pistner. „Gleichzeitig ist unklar, ob sie wirklich funktionieren und vor allem, ob sie tatsächlich billiger Strom erzeugen könnten als heutige Reaktoren.“ Und damit sich SMR rechnen, müsste man Tausende davon produzieren. „Wer sollte hier Geld investieren, wenn noch nicht mal klar ist, ob die SMR auch Abnehmer*innen finden? Und: Wenn man so viele SMR aufstellt, würde natürlich auch das Risiko insgesamt wieder höher.“

Bisher hat Dr. Christoph Pistner kein Konzept gesehen, das ihn von einer Zukunft der Kernenergie überzeugt – auch nicht in der so genannten Partitionierung und Transmutation, bei der radioaktive Abfallstoffe aufgetrennt und Teile davon in Kernreaktoren umgewandelt werden sollen. „Wenn solche Verfahren überhaupt großtechnisch funktionieren – was vollkommen fraglich ist – werden sie extrem aufwändig und teuer sein. Und ein Endlager wird es trotzdem brauchen.“ Die Kernenergie hat für ihn daher ein Ablaufdatum, nicht nur in Deutschland. „Ich rechne mit einem schleichenden Abschied“, sagt der Experte, „man kann die alten Anlagen nicht mehr beliebig verlängern – und neue Anlagen sind eben auch einfach zu teuer.“

Aktuelle Informationen auf blog.oeko.de

Die Diskussion über die Kernenergie in Deutschland ist rege und vielfältig. Das Öko-Institut bringt sich dabei mit seiner Expertise kontinuierlich ein. So etwa mit Analysen zur aktuellen Energiekrise, zu den viel diskutierten Beiträgen der Atomkraft und den Risiken des Streckbetriebs. Auf dem Blog des Öko-Instituts finden Sie laufend Informationen über die bestehenden Debatten, anstehende politische Entscheidungen und aktuelle Entwicklungen. blog.oeko.de/tschuess-akw 

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Dr. Christoph Pistner leitet am Öko-Institut den Bereich Nukleartechnik & Anlagensicherheit, wo er unter anderem Gutachten und Stellungnahmen zum kerntechnischen Regelwerk und zur Anlagensicherheit erstellt. Der Physiker ist zudem stellvertretender Vorsitzender der  Reaktor-Sicherheitskommission (RSK).