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Im Fokus

28.000 Fußballfelder

Flächen sparen statt verbrauchen

Christiane Weihe

Jeden einzelnen Tag verschwinden in Deutschland Flächen. Unter Wohnhäusern. Supermärkten. Oder Straßen. 55 Hektar weichen täglich für Siedlungen und den Verkehr. Das sind etwa 78 Fußballfelder, die heute, morgen und übermorgen neu belegt werden. Auch in Europa wächst die Siedlungs- und Verkehrsfläche. Jährlich nimmt sie einen zusätzlichen Raum ein, der größer als Budapest ist. Alleine zwischen 2012 und 2018 gingen 539 Quadratkilometer Ackerfläche oder natürliche und naturnahe Flächen verloren. Dies hat unter anderem Folgen für die Biodiversität und die Bodenqualität, aber auch fürs Klima. Welche Ansätze können dabei helfen, den viel zu großen Flächenverbrauch einzudämmen? Zu dieser Frage forscht auch das Öko-Institut.

Bis 2030 will die Bundesregierung die Neuinanspruchnahme von Flächen auf unter 30 Hektar täglich reduzieren. Das sieht die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie seit 2016 vor. Laut Klimaschutzplan soll bis 2050 sogar als Flächenverbrauchsziel „Netto Null“ erreicht werden – also eine vollständige Flächenkreislaufwirtschaft. Auch die EU strebt dies in ihrem „Fahrplan für ein ressourceneffizientes Europa“ an. „Solche ambitionierten Ziele sind gut und wichtig. Aber es ist nun dringend notwendig, dass auch überlegt wird, wie sie erreicht werden sollen“, sagt Franziska Wolff vom Öko-Institut.

Denn: Das stetige Verschwinden von Freiraumflächen ist ein großes Problem. So etwa, weil diese Flächen dann nicht mehr für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung stehen. Weil sie keine Treibhausgase mehr aufnehmen können. Weil versiegelte Flächen das Hochwasserrisiko erhöhen. Weil Landschaften zerschnitten und damit wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen verloren gehen. Weil in der Folge von Zersiedelung Infrastrukturen geringer ausgelastet sind und damit ein höherer Versorgungsaufwand für jede*n Einzelne*n entsteht. Doch warum verbrauchen wir überhaupt nach wie vor so viele neue Flächen – schließlich stagniert die Bevölkerung hierzulande? „Private Haushalte nehmen immer mehr Raum ein und die Wirtschaft will neue Standorte erschließen“, sagt Wolff, die den Bereich Umweltrecht & Governance leitet. „Außerdem gibt es in den Kommunen oftmals steuerliche Anreize, die Gewerbe und neue Einwohner*innen anlocken sollen. Flächensparen oder Flächenrecycling hingegen und die damit verbundenen Möglichkeiten, Umwelt, Klima und Ressourcen zu schützen, werden in Planungsprozessen nicht ausreichend berücksichtigt. Insgesamt scheint der politische Wille zum Flächensparen bislang nicht allzu hoch zu sein.“

Neue Optionen

Zwar ist schon heute die Neuinanspruchnahme von Flächen niedriger als um die Jahrtausendwende – zwischen Mitte der 1990er und der 2000er Jahre verschwanden jeden Tag noch über 100 Hektar unter Siedlungen und Verkehrsflächen. „Das Problem ist damit aber noch lange nicht behoben. Die bestehenden Anstrengungen reichen nicht aus, um bis 2050 eine Flächenkreislaufwirtschaft zu erreichen.“ So gibt es zum Beispiel im Bundesnaturschutzgesetz eine Eingriffsregelung: Wo ein unvermeidbarer Eingriff in die Natur stattfindet, muss dieser ausgeglichen, ersetzt oder mit einer Ersatzzahlung kompensiert werden. „Es ist aber fraglich, wie gut das funktionieren kann. Denn Kompensation schafft ja keinen neuen, natürlichen Boden. Zudem gibt es keine Verpflichtung zur Entsiegelung oder Renaturierung. Und selbst wenn entsiegelt wird: Die hohe ökologische Wertigkeit lässt sich nicht wiederherstellen.“, sagt Tobias Wagner, Senior Researcher am Öko-Institut.

Im Projekt „Handlungsoptionen zum Erreichen des europäischen Flächensparziels Netto-Null“ widmet sich das Öko-Institut derzeit gemeinsam mit dem Helmholtz Zentrum für Umweltforschung der Frage, wie Flächensparziele operationalisiert und erreicht werden können. Aktuell screent das Projektteam für das Umweltbundesamt  laufende Aktivitäten auf europäischer Ebene zu Flächensparen und Bodenschutz. „Darunter befinden sich unter anderem Informationssysteme und Forschungsprojekte, aber auch politische Instrumente und Umsetzungsaktivitäten“, sagt Franziska Wolff, „wir analysieren diese Aktivitäten und schätzen ihre Relevanz ein.“ Dazu gehören etwa der Copernicus-Landüberwachungsdienst, der Daten zur Landoberfläche bereitstellt, oder auch die Partnerschaft zu nachhaltiger Landnutzung und naturbasierten Lösungen im Rahmen der „Urbanen Agenda“ der EU. „Die Partnerschaft hat einen Aktionsplan entwickelt, in dem es um Indikatoren für die Flächeninanspruchnahme und deren Berücksichtigung in Folgenabschätzungsverfahren geht. Eine Rolle spielt zudem, wie die Sanierung von Indus­triebrachen finanziert, ungenutzte Flächen identifiziert und verwaltet werden können, und wie sich Zersiedelung eindämmen lässt. Aus unserer Sicht enthält der Aktionsplan viele interessante Ansätze.“ Darüber hinaus haben die Wissenschaftler*innen Einzelmaßnahmen aus den EU-Mitgliedsstaaten zusammengefasst. Luxemburg erwägt etwa handelbare Flächenzertifikate, beim österreichischen Klimacheck spielt bei Umweltprüfungen auch der Flächenverbrauch eine Rolle, in Polen wurden der Grundsatz der Flächenkreislaufwirtschaft und die Kompensation bei Flächenneuinanspruchnahme ins Nationale Raumentwicklungskonzept 2030 aufgenommen. „Einige Länder haben bereits quantifizierte Flächensparziele – es könnten aber mehr sein, und auch bei der Operationalisierung hapert es noch sehr.“ Auch der Entwurf der Kommission für das EU-Bodengesundheitsgesetz von Anfang Juli 2023 sieht keine Pflichten für die Mitgliedsstaaten vor, sich Flächensparziele zu setzen und zu instrumentieren. „Es steht zu hoffen, dass der Entwurf in den kommenden Monaten in Bezug auf das Flächenthema noch ambitionierter ausgestaltet wird – sonst wird es schwierig, das Netto-Null-Ziel zu erreichen.“

Auf Grundlage seiner Analysen wird das Projektteam das Umweltbundesamt im Rahmen der anstehenden europäischen Dialogprozesse unterstützen. „Durch mehrere europäische Workshops wollen wir die Zusammenarbeit bei dieser sehr komplexen und in Europa auch sehr unterschiedlich gehandhabten Herausforderung verbessern.“

Wer Flächen schützt statt sie zu verbrauchen, leistet auch einen Klimaschutzbeitrag. Im Projekt „THG-Minderungspotenziale durch Flächensparen“ für das Umweltbundesamt analysiert das Öko-Institut daher den Einfluss des Flächenverbrauchs auf die Treibhausgasemissionen. „Werden weniger Flächen verbraucht, dann bleiben CO2-Senken erhalten“, sagt Projektleiter Tobias Wagner. „Werden weniger Siedlungen oder Verkehrsin­frastrukturen errichtet, spart dies zudem zahlreiche Ressourcen und ebenfalls Treibhausgasemissionen ein.“ Bislang gebe es aber beim Flächensparen nur ein sehr geringes Bewusstsein über die Treibhausgaswirkungen des Flächenverbrauchs – und auch zu wenig Fachwissen. „Bislang können etwa die Planer*innen in Städten und Gemeinden die Treibhausgaswirkungen der Flächenneuinanspruchnahme nicht einfach quantifizieren – ihnen fehlen dazu schlicht die Instrumente. Daher berücksichtigen sie diese in der Regel auch nicht.“

Sensiblere Gemeinden

Um Gemeinden für die große Wirkung ihres Handelns zu sensibilisieren und ihnen gleichzeitig eine leicht verständliche Handlungshilfe an die Hand zu geben, entwickeln die Wissenschaftler*innen derzeit eine Methode, die Potenziale zur Treibhausgasminderung aus der Einsparung von Flächen ermittelt und visualisiert. Ein Fokus liegt dabei auf den Veränderungen, die sich am Kohlenstoffvorrat in Boden und Vegetation ergeben. Dabei betrachtet das Öko-Institut gemeinsam mit der Gertz Gutsche Rümenapp – Stadtentwicklung und Mobilität GbR (siehe hierzu auch Porträt von Dr. Jens-Martin Gutsche auf Seite 13) ebenso die Emissionen, die bei der Errichtung und Nutzung von Gebäuden und Infrastruktur entstehen. „Alleine beim Ausheben des Bodens etwa setzen wir einen Verlust von 11 Prozent des darin gespeicherten Kohlenstoffs an – auch wenn der Aushub lediglich für den Zeitraum der Baumaßnahme zwischengelagert wird“, erklärt Wagner. Schon heute steht fest: Die Außenentwicklung, also etwa der Neubau von Gebäuden auf vorherigen Freiraumflächen, belastet Umwelt und Klima in aller Regel mehr als die Innenentwicklung, bei der zum Beispiel bestehende Gebäude aufgestockt oder nach einem Abriss mit mehr Nutzfläche wiedererrichtet werden. Die Expert*innen haben bereits einen Statusbericht zum aktuellen Wissensstand erstellt und erarbeiten nun die Berechnungsmethode. Mit Abschluss des Projektes im kommenden Jahr wollen sie berechnen können, wie hoch das Treibhausgaseinsparpotenzial für jeden Hektar ist, der nicht neu belegt wird – und das bis auf die Ebene der etwa 11.000 Gemeinden in Deutschland.

„Schon im bisherigen Projektverlauf haben wir viele spannende Erkenntnisse gewonnen“, sagt der Wissenschaftler vom Öko-Institut. „So zeigen sich die großen Wirkungsmechanismen bei der Flächenumnutzung und dabei auch viele indirekte Effekte.“ Er erinnert an die Teller-oder-Tank-Debatte, die sich damit beschäftigte, dass durch den Anbau etwa von Mais oder Raps für Bioenergie hierzulande weniger Flächen für den Nahrungsmittelanbau zur Verfügung stehen – und diese dann in anderen Ländern belegt werden. „Bei der Flächenneuinanspruchnahme sehe ich eine ähnliche kausale Kette – nur der Auslöser ist ein anderer.“ Auch die Veränderungen von Oberflächen etwa durch die Versiegelung mit Asphalt habe einen Einfluss auf das Klima. „Man nennt das den Albedo-Effekt. Wenn Sonnenlicht zum Beispiel auf eine weiße Eisfläche oder auch Grünflächen trifft, wird es stärker reflektiert als etwa bei dunklem Asphalt. Dies hat ebenfalls einen Einfluss auf die Erderwärmung.“

Für ein Umdenken

Wer den Entscheider*innen und Planer*innen in Städten und Gemeinden vor Augen führt, welche Auswirkungen die Erweiterung von Verkehrs- und Siedlungsflächen hat, so die Hoffnung von Tobias Wagner, kann ein Umdenken herbeiführen und vielleicht sogar eine Neuausrichtung des politischen Handelns. „Wenn wir Kommunen konkret zeigen können, wie viele Treibhausgase sie durch ihren Flächenverbrauch verursachen, wird das manche von ihnen hoffentlich dazu bewegen, Fläche als relevante, beachtens- und schützenswerte Ressource in ihren Planungen zu berücksichtigen.“

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Franziska Wolff leitet am Öko-Institut den Bereich Umweltrecht & Governance. Hier befasst sie sich mit internationaler, europäischer und deutscher Umweltpolitik. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf nachhaltiger Landnutzung. Tobias Wagner ist als Senior Researcher im Bereich Ressourcen & Mobilität tätig. Hier erstellt er unter anderem Öko- und Treibhausgasbilanzen und widmet sich der Umweltbewertung von Flächenverbrauch.