Die ungenutzten regulatorischen Potenziale von Zertifikaten, Labels und Siegeln
Private Standards, Zertifikate, Label oder Siegel könnten helfen, Regelungs- und Lücken in transnationalen Lieferketten zu schließen. Und zwar dort, wo Regeln oder der Zugriff von Behörden fehlen („governance gaps“), um menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten durchzusetzen. Sie könnten damit eine relevante Rolle bei der Umsetzung des deutschen Lieferkettensorgfaltsflichtengesetzes (LkSG) und bei der angekündigten Europäischen Lieferkettenregulierung spielen. Hierfür ist es notwendig, die rechtliche Verantwortung von Zertifizierern für mögliche Rechtsverletzungen zu klären, um die Verlässlichkeit der Zertifikate zu verbessern. Bislang fehlt es an Regeln, die eine verantwortungsvolle Zertifizierung in diesem Bereich gewährleisten würden.
Zwei Lösungsszenarien
Ein neues Gutachten, welches das Öko-Institut gemeinsam mit Dr. Carola Glinski von der Universität Kopenhagen im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbands verfasst hat, nennt zwei Lösungsansätze für die zukünftige Qualitätssicherung von Standards, Zertifikaten, Labeln und Siegeln. Einerseits wäre es möglich, die verbindliche Zertifizierung im Lieferkettengesetz festzuschreiben und auch die rechtliche Verantwortung der Zertifizierer dort zu normieren. Andererseits können Zertifizierungsstellen, auch unabhängig von einem Lieferkettengesetz, organisatorische und strukturelle Vorgaben gemacht und materielle und prozedurale Pflichten auferlegt werden. Auch Regeln über die Reichweite und den Umfang der Haftung von Zertifizierern würden helfen, die Verlässlichkeit und damit die rechtliche Relevanz von Zertifikaten zu stärken.
In beiden Szenarien ist eine „zertifizierungsfreundliche“ Ausgestaltung unternehmerischer Sorgfaltspflichten hilfreich. Dies kann entweder durch eine möglichst konkrete Regelung bestimmter Sorgfaltsanforderungen in einem Lieferkettengesetz erfolgen oder auf der Ebene rechtlich validierter privater Standardisierungssysteme. Wo konkrete Ge- oder Verbote für Unternehmen gesetzt werden können, müssen Zertifizierer deren Einhaltung nur noch „abprüfen“.
Wertvoller Maßstab bei Gerichtsentscheidungen
„Ihren theoretischen Steuerungspotenzialen werden Zertifikate heute überwiegend noch nicht gerecht“, sagt der Rechtsanwalt Dr. Peter Gailhofer vom Öko-Institut. „Statt einer verlässlichen Qualitätssicherung haben wir heute in vielen Bereichen einen ‚Siegelwildwuchs‘“, so Gailhofer. „Das kann realistisch geändert werden, sodass Zertifikate ihre regulatorischen Potenziale wirklich entfalten können.“
Wenn Zertifikate sich auf anspruchsvolle und hochspezialisierte Standards stützen, helfen sie nicht nur Verbraucherinnen und Verbrauchern dabei, nachhaltiger zu konsumieren, sondern können auch zum wertvollen Maßstab bei Gerichtsentscheidungen werden und Orientierung bei der Entwicklung verbindlicher Regelwerke bieten.
Zertifikate im Textilsektor
Ein Anwendungsfall für Zertifikate ist der Textilsektor. Hier haben deutsche Unternehmen den Rohstoffanbau und die Produktion in Niedriglohnländer ausgelagert, in denen fundamentale Arbeitsschutzverletzungen an der Tagesordnung sind. Auch werden auf verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette Umweltschäden mit erheblichen Auswirkungen für Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Einheimische verursacht: zum Beispiel Wasserverschmutzungen durch Pestizide im Baumwollanbau.
Private Audits und Zertifizierungen sind weiterhin das maßgebliche Instrument, mit dem die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards vor Ort überprüft werden kann.