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Wichtig, ambitioniert – umsetzungsstark?

Das Fit for 55-Paket der EU

Christiane Weihe

Ambitionierter war Klimaschutz in der EU noch nie: Mit dem „Fit for 55“-Paket soll es möglich werden, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken – denn dies sieht der European Green Deal vor. Hinterlegt ist dieses Ziel mit ehrgeizigen Plänen für alle Sektoren. Das Paket wurde von vielen Seiten begrüßt. Auch das Öko-Institut sieht darin einen wichtigen, einen ambitionierten Schritt. Doch lassen sich die Emissionen tatsächlich in weniger als einem Jahrzehnt so deutlich senken? Welche der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Pläne sind realistisch und wo gibt es Nachbesserungsbedarf? Zu diesen Fragen arbeitet das Öko-Institut in unterschiedlichen Projekten.

Das „Fit for 55“-Paket wurde von der EU-Kommission im Juli 2021 vorgelegt. Nach der Prüfung im Europarat und im Europaparlament werden im so genannten Trilog Vertreter*innen dieser beiden Institutionen sowie der EU-Kommission mögliche Änderungen besprechen und verhandeln. Die ersten Beschlüsse sollen im Jahr 2022 gefasst werden.

Neben ambitionierteren Klimazielen enthält das „Fit for 55“-Paket Vorschläge für ordnungsrechtliche und marktorientierte Instrumente. „Die Kommission will unter anderem die Energieeffizienz in der EU stärken, den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen, strengere Emissionsstandards für Pkw durchsetzen und die Landnutzung in den Klimaschutz integrieren“, erklärt Sabine Gores, Expertin für nationale und europäische Klimapolitik am Öko-Institut. „Darüber hinaus ist geplant, den Emissionshandel auf neue Sektoren auszuweiten sowie das bestehende Emissionshandelssystem zu verbessern.“ (Zum Emissionshandel siehe ausführlich „Kohlendioxid kostet“ auf Seite 10.) Auch die EU-Klimaschutzverordnung, die Effort Sharing Regulation, soll angepasst werden. In ihr sind jene Sektoren zusammengefasst, die bislang nicht vom Emissionshandel erfasst werden. „Das ist ein extrem wichtiges In­strument, denn während man früher das Nicht-Erreichen von Klimazielen einfach mit einem Schulterzucken wegdiskutieren konnte, kostet es jetzt richtig Geld“, so Gores.

Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen der EU um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 gesenkt werden

Unter anderem der schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien erhält seit dem Krieg in der Ukraine noch einmal eine höhere Dringlichkeit, da er eine höhere Unabhängigkeit von Importen fossiler Energien aus anderen Staaten – wie eben von russischem Erdgas und Erdöl – bringen wird. Nach den Plänen der EU-Kommission soll der Anteil regenerativer Quellen am Energieverbrauch bis 2030 bei 40 Prozent liegen, damit wurde das bisherige Ziel um acht Prozent erhöht. Darüber hinaus soll es Einzelziele für unterschiedliche Sektoren geben – so etwa den Verkehr, die Industrie oder den Gebäudebereich. „Hier hat übrigens die deutsche Bundesregierung im Koalitionsvertrag ambitionierte Maßstäbe gesetzt: Er sieht vor, dass bei neu eingebauten Heizsystemen ab 2025 insgesamt 65 Prozent der Energie aus erneuerbaren Quellen stammen muss.“

Auch mehr Energieeffizienz kann die Abhängigkeit von fossilen Quellen verringern. Für sie sieht das „Fit for 55“-Paket ebenfalls ehrgeizigere Ziele vor, die jährliche Einsparung von Energie soll fast verdoppelt werden. Ziel ist zudem, dass der öffentliche Sektor jedes Jahr drei Prozent seines Gebäudebestands saniert. „Ich kann mir gut vorstellen, dass der Krieg in der Ukraine die Diskussionen über erneuerbare Energien und Energieeffizienz noch einmal voranbringt und dass am Ende des Verfahrens noch anspruchsvollere Ziele stehen“, sagt die Wissenschaftlerin vom Öko-Institut.

Erhöhen will die EU-Kommission auch die Klimaziele für Sektoren, die bislang nicht vom Emissionshandel erfasst sind und daher unter die Effort Sharing Regulation fallen – also Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und kleine Unternehmen. Sie stoßen rund 60 Prozent der europäischen Treibhausgasemissionen aus und sollen diese nun im Vergleich zu 2005 um mindestens 40 Prozent senken statt wie bislang um 30 Prozent. Je nach Ausgangssituation und Kapazitäten ergeben sich daraus für die einzelnen Länder unterschiedliche Ziele. „Für Deutschland wird es bis 2030 auf eine Senkung der Emissionen aus diesen Sektoren um 50 statt wie bislang um 38 Prozent hinauslaufen.“

Der Anteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch soll 2030 bei 40 Prozent liegen

Erstmals sind außerdem Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) in die Klimaziele integriert – und damit die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre. Im Jahr 2030 soll der LULUCF-Sektor EU-weit 310 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente aufnehmen. Zudem sind absolute Ziele für die einzelnen Länder geplant. „Leider ist die Datenbasis, an der sich diese Ziele ausrichten, noch nicht so stabil“, sagt Sabine Gores, „diese ist auch schwer zu erstellen, denn im Gegensatz etwa zur Kohleverbrennung, bei der man recht genau sagen kann, wie viele Treibhausgase dabei entstehen, hängt die Frage, wie viel CO2 zum Beispiel der Boden aufnehmen kann, etwa davon ab, wie er gepflügt wird. Eine weitere wichtige Frage ist die Langfristigkeit der Einbindungen von Emissionen in diesem Bereich. Vermiedene Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger sind deshalb am wichtigsten und nicht mit Emissions-Einbindungen im Landnutzungsbereich direkt gleichzusetzen.“

Mehr Ambition, schneller handeln

Insgesamt bewertet die Expertin vom Öko-Institut das „Fit for 55“-Paket der EU-Kommission als sehr positiv: „Europa geht damit einen sehr großen Schritt vorwärts. Nun muss das Paket aber auch mit höheren Standards und Regulierungen hinterlegt werden, die Umsetzung muss stärker kontrolliert werden“, sagt Gores. Bereits seit 2019 arbeitet sie zum Beispiel am Projekt „Zielerreichung und Ambitionssteigerung des EU-Klimaschutzes sowohl mittelfristig (2030) als auch langfristig (2050+)“ für das Bundesumweltministerium, das sich ambitionierteren Klimazielen für Europa widmet – erste Ergebnisse daraus könnten bereits helfen, die Pläne der EU-Kommission mit Leben zu füllen. „Wir untersuchen darin, wo es hierzulande Möglichkeiten gibt, die Ambitionen zu steigern und erstellen qualitative und quantitative Analysen zur Klimapolitik. So haben wir zum Beispiel gemeinsam mit dem Ecologic Institut die Potenziale natürlicher Senken – also etwa von Wäldern sowie von Grün- und Ackerland – analysiert sowie die Möglichkeiten, diese Potenziale zu erhalten und zu verbessern“, sagt Sabine Gores. Im Working Paper „Options for Strengthening Natural Carbon Sinks and Reducing Land Use Emissions in the EU“ zeigt das Projektteam, dass die Erhaltung und Aufforstung von Wäldern das höchste Potenzial bei der Kohlenstoffbindung haben. Um gleichzeitig Emissionen aus der Landnutzung zu verhindern, sei es zudem wichtig, organische Böden zu schützen und wieder zu vernässen. „Die Annahmen, wie viel CO2 die europäischen Senken tatsächlich aufnehmen können, gehen sehr weit auseinander. Wir schätzen, dass der Wert 2050 zwischen 400 und 600 Megatonnen im Jahr liegen kann.“

Schnell und langfristig

Deutschland sieht die Wissenschaftlerin grundsätzlich gut auf die neuen Ziele vorbereitet. „Das deutsche Klimaschutzgesetz hat die Zielvorschläge der Kommission im Grunde schon vorweggenommen. Wir müssen nun aber von den Zielen endlich ins Handeln kommen, denn die Umsetzung wird ihre Zeit brauchen, vor allem bei den infrastrukturellen Maßnahmen.“ (Siehe dazu auch das Porträt von Sabine Gores auf Seite 13.) Das heißt für die Diplom-Ingenieurin der Energie- und Verfahrenstechnik aber nicht nur eine schnelle Umsetzung, sondern auch ein langfristiges Denken. „Wir wollen in Deutschland bis 2045 klimaneutral sein, das wird eine große Herausforderung und eine, an der man immer wieder arbeiten muss. Das heißt auch: Die Ansprüche und Ziele müssen über Wahlzyklen und gegebenenfalls unterschiedlich besetzte Regierungen und Parlamente hinweg bestehen bleiben.“ Dafür müssen die Menschen von der langfristigen Notwendigkeit eines ehrgeizigen Klimaschutzes überzeugt werden. „Damit sie nicht nur auf ihr derzeitiges Wohlempfinden schauen, sondern auch auf das künftiger Generationen.“ Gleichzeitig sieht Sabine Gores vor dem Hintergrund der weltpolitischen Lage aber auch eine nie dagewesene Bereitschaft, sich von fossilen Energieträgern zu lösen.

Bis 2050 will Europa der erste klimaneutrale Kontinent sein

Das Öko-Institut unterstützt das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz im weiteren Prozess. „Wir bewerten etwa die Fortschritte beim Erreichen der nationalen und europäischen Klimaziele und analysieren, ob es zusätzliche Maßnahmen braucht und was sie bewirken könnten.“ Dies soll auch Grundlage des nächsten deutschen Energie- und Klimaplans (National Energy and Climate Plan, kurz NECP) sein, der in finaler Form bis Mitte 2024 vorliegen muss und Ziele sowie Strategien und Maßnahmen des Klimaschutzes beschreibt. „Alle Mitgliedsstaaten müssen solche Berichte vorlegen“, so die Expertin.

In der Analyse „Trends and projections in Europe 2021“ für die Europäische Umweltagentur (EEA) unterstreichen die Wissenschaftler*innen vom Öko-Institut die Notwendigkeit entschlossenen Handelns auch auf europäischer Ebene: Läuft der Klimaschutz weiter wie bisher kann bis 2030 nur eine Reduktion um 41 Prozent erreicht werden. „Die Auswertung der nationalen Energie- und Klimaschutzpläne zeigt, dass ohne weitere Anstrengungen der Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 bei 33 Prozent liegt – und damit sieben Prozentpunkte unter dem neuen Ziel der EU-Kommission – und selbst das bestehende Energieeffizienzziel um fast fünf Prozentpunkte verfehlt wird.“

Ambitionierter war Klimaschutz in der EU noch nie. Nun müssen die europäischen Staaten zeigen, dass sie nicht nur ehrgeizige Ziele festlegen, sondern auch eine entschlossene, langfristige und mutige Umsetzung auf den Weg bringen können. Denn der Klimaschutz kann schon lange nicht mehr warten – aus geopolitischen, vor allem aber aus ökologischen und sozialen Gründen.

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Bereits seit über zwanzig Jahren befasst sich Sabine Gores mit dem Klimaschutz. Am Öko-Institut analysiert die Diplom-Ingenieurin der Energie- und Verfahrenstechnik unter anderem die europäische Emissionsentwicklung und erstellt Szenarien zu zukünftigen Energieverbräuchen und Treibhausgasemissionen.